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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Ton Koopman (c) Froppe Schut

„Bach 333“

Gesamt-Kunstwerk

Hoffentlich Trendsetter: Statt Ramschwürfel widmet man Bach eine Werksammlung hochwertiger Aufnahmen in durchdachter Aufbereitung.

Eine komplette Edition aller Werke Johann Sebastian Bachs zum 333. Geburtstag des Thomaskantors – etwa ein Marketing-Gag, um mal wieder altes Archivmaterial auf den Markt zu spülen? Keineswegs: Allein die Aufzählung, was „Bach 333“ im positiven Sinne alles nicht ist, lässt das Herz des Bach-Liebhabers höher schlagen.
Auch Angelika Meissner, Executive Producer bei der Deutschen Grammophon GmbH, zeigt sich begeistert von dem Produkt, das sie innerhalb eines kleinen Teams über zwei Jahre hinweg mitbetreuen durfte. Sie war verantwortlich für insgesamt zehn Stunden Tonaufnahmen, die eigens für die 222-CD-Box neu produziert worden sind. Etwa die Sonaten und Partiten für Violine solo: Hiervon gab es in den Archiven der DG keine Einspielung in historisch informierter Aufnahmepraxis – also wurde neu eingespielt, mit dem italienischen Spezialisten Giuliano Carmignola.
Neu eingespielt – ja, teilweise auch zum ersten Mal überhaupt, wurde auch eine Reihe von Werken, die in nicht enzyklopädisch ausgerichteten Veröffentlichungen kaum Platz finden könnten: Fragmente etwa oder Zweitfassungen von Werken. Der Organist Christian Schmitt oder der Cembalist Justin Taylor befanden sich für knifflige Aufgaben dieser Art zeitweise im Dauer-Austausch mit den Verantwortlichen des Labels einerseits und mit der Bachforschung vom Leipziger Bach-Archiv andererseits. Letztere nämlich wurden von Anfang an eng eingebunden in „Bach 333“, denn es war der erklärte Anspruch der Produzenten, auch wissenschaftlich auf dem neusten – dem allerneusten Stand zu sein. So entstand „Bach 333“ parallel zu den gerade laufenden wissenschaftlichen und editorischen Arbeiten an aktualisierten Neueditionen vieler Bände der Neuen Bach-Ausgabe.
Hiervon künden auch die Bücher, die sich neben den 222 CDs in der Box befinden: Eines davon ist eine illustrierte Biografie J. S. Bachs, ein weiteres enthält zwölf Essays von ausgewiesenen Bach-Experten, die allesamt eigens für diese Edition geschrieben wurden.

Göttliche Schnapszahl

Warum aber 333? Wer Bach kennt, löst dieses Rätsel leicht: Es ist eine Anspielung auf die Bedeutung der Dreizahl und ihrer Potenzen nicht nur im geistlichen, sondern im gesamten Schaffen des gläubigen Lutheraners. Die drei steht für die göttliche Trinität, und sie wurde von der zeitgenössischen Musiktheorie auch in der reinen Dreiklangsharmonie, dem Ausgangs- und Endpunkt aller Musik, verortet.
Der Totalität des Gesamtwerkes von Johann Sebastian Bach, die „Bach 333“ nach bestem Wissen und Gewissen bietet – man hat tatsächlich jede auffindbare Note verfügbar gemacht, bekundet Angelika Meissner begeistert –, steht auch eine bemerkenswerte Weite der repräsentierten Interpretationsansätze gegenüber: Naheliegend ist heutzutage, historisch informierte Einspielungen zu bevorzugen. Was aber tun mit alten Einspielungen, die einen hohen dokumentarischen und ästhetischen Wert haben? Sie doppeln in dieser Edition die zeitgenössischen Interpretationen. Janet Bakers Einspielung von „Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“ (BWV 170) durfte ebenso wenig fehlen wie Fischer- Dieskaus Einspielung der Kreuzstab- Kantate. Unter den Dirigenten finden sich lang verblichene Meister wie Willem Mengelberg, Karl Ristenpart oder Fritz Lehmann. Ihre historischen Leistungen wurden am Beispiel einiger Werke berücksichtigt, aber diese finden sich in der Box gleichzeitig auch noch einmal in historisierender Version. Ebenso wurden Werke mit alternativen Versionen mehrfach aufgenommen, etwa das Magnificat in den Fassungen Es- Dur und D-Dur, die Johannes-Passion oder die Matthäus-Passion.
Freilich hat selbst ein Label wie die Deutsche Grammophon nebst Schwesterlabels nicht annähernd den gesamten Bach in repräsentativer Gestalt im Archiv. Um überhaupt den Kernbestand der Werke verfügbar zu machen, mussten Lizenzen bei anderen Labels eingeholt werden: Über dreißig Schallplattenfirmen sind auf diese Weise an „Bach333“ beteiligt, und deshalb finden sich Namen wie Ton Koopman, Masaaki Suzuki oder Gustav Leonhardt, die man gemeinhin nicht mit dem Gelblabel in Verbindung bringt, im Tracklisting in vertrauter Eintracht mit Paul McCreesh, Reinhardt Goebel und Víkingur Ólafsson.
Eine solche Box ist ein Prestige-Produkt, es ist eine Goldgrube eher für den Käufer als für die Schallplattenfirma. Hier wundert sich der Skeptiker, der den Werdegang gerade der Traditionslabels in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten mit Argwohn verfolgt hat: Steht man eigentlich noch zum großen Erbe und zu dem hohen, allein an der Kunst orientierten Ethos vergangener Tage? Auch dieses Thema kommt im Gespräch mit der zu Recht stolzen Produzentin Angelika Meissner offen zur Sprache: „Bach 333“ erscheint in einer limitierten Auflage von 8.500 nummerierten Boxen. Sie wird sich folglich niemals auf einem Wühltisch finden, mit ihr wird man keinen Reibach machen. Es ist eine erfreuliche Nachricht, dass so etwas wieder geht – und, soviel verspricht Frau Meissner, auch in Zukunft gehen wird.

Neu erschienen:

„Bach 333“. Das Gesamtwerk (222 CDs, 1 DVD, 2 Luxus-Hardcover-Bücher, mehr als 750 Interpreten und Ensembles, 280 Stunden Musik)

DG/Universal

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Bach ohne Ende

„Loose ends“ könnte das Stichwort lauten für das Konzept, das das Team von „Bach333“ im Hinblick auf die Aufführungspraxis verwirklicht hat: Konventionell und historisierend, also Karl Richter neben Ton Koopman, beschreibt nur eine Achse der offenen Ausrichtung. Einbezogen wurden auch tatsächlich historische Aufnahmen: Der Organist Karl Straube oder der Dirigent Fritz Busch repräsentieren diese Richtung. Sie stehen Interpreten gegenüber, die in der heutigen Zeit Bach entweder nicht-historisierend oder gar grenzüberschreitend in unterschiedlichen Arten von Bearbeitungen aufbereiten: Der Cellist Peter Gregson unterlegt Sätzen aus Cello-Solo-Suiten Rhythmen und versetzt sie mit Loops in meditatives Schwingen. Gespannt sein darf man auch auf den Bach von George Shearing oder Stan Getz.

Michael Wersin, 20.10.2018, RONDO Ausgabe 5 / 2018



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