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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Daniel Bödeker

Knabenchor Hannover

In die Verlängerung

Eine der beliebtesten Weihnachtsmotetten war seit 35 Jahren nur in stark verkürzter Fassung bekannt – jetzt erklingt sie in originaler Pracht.

Die Arbeit des Musikers erschöpft sich nicht im Einstudieren und Aufführen von Werken, sondern sie schließt im Zuge der Programmplanung definitiv auch den Umgang mit authentischen Quellen ein. Wie wichtig der Blick ins originale Material sein kann, zeigt der spannende Fall der Adventsmotette „Machet die Tore weit“ von Andreas Hammerschmidt (1611–1675). Das textlich auf Psalm 24 basierende sechsstimmige Stück ist schon seit langer Zeit sehr verbreitet. Viele von uns haben es bereits im Schulchor kennengelernt, denn es war seit den 1980er Jahren in einem seinerzeit vielgenutzten Chorbuch leicht zugänglich und verband in jener Ausgabe sehr vorteilhaft die leichte Umsetzbarkeit mit hohem klanglichen Reiz.
Was man damals nicht ahnte: Die verbreitete Ausgabe von „Machet die Tore weit“, die in der Folge auch in andere Chorbücher übernommen wurde, war unvollständig. Nicht 78 Takte lang nämlich ist das Stück, sondern es hat im Original mit 172 Takten mehr als die doppelte Dimension.
Jörg Breiding, Professor für Dirigieren/ Chorleitung an der Folkwang Universität der Künste in Essen und Leiter des Knabenchors Hannover, hat die originale Version der Motette nun mit seinem Knabenchor eingespielt, aufgenommen von den Tonmeistern des Leipziger Labels Rondeau Production. Breiding hat diese Version schon vor längerer Zeit beim Stöbern auf einer Internetplattform als gemeinfreie Einzelausgabe entdeckt, sehr ansprechend gefertigt von einem privaten Herausgeber. Neugierig geworden begann er zu recherchieren und konnte die Authentizität der Langversion anhand der Quellen belegen, ohne jedoch bisher auf den Ursprung der Kurzfassung gestoßen zu sein.

Das Weihnachts-Wunder

dazu den Notentext zur Kenntnis nimmt, wird überrascht sein: Der von unbekannter Hand vorgenommene Kürzungsvorgang bedingt nicht etwa nur den Ausfall längerer Abschnitte; es fielen ihm vor allem immer wieder einzelne Takte zum Opfer. So werden gleich die ersten Worte „Machet die Thore weit“ unmittelbar wörtlich wiederholt, wodurch interpretatorisch ein hübscher Echoeffekt möglich wird. Ähnlich verhält es sich mit der zweiten Phrase „und die Thüre in der Welt hoch“. Weiter hinten ging durch die Kürzung allerdings auch einiges an Text verloren: So vertonte Hammerschmidt auch das hebräische Schlusszeichen „Sela“, wodurch der Übergang in den „Hosianna“- Schlussabschnitt musikalisch weitaus glatter verläuft als in der gekürzten Fassung. Und das deutlich längere „Hosianna“ selbst offenbart seine biblische Quelle im Original noch durch die entsprechenden Worte „Hosianna dem Sohne David, gelobet sey der da kömt im Namen des Herren“. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Motette eigentlich eine bezifferte instrumentale Bassstimme zur Ausführung durch eine Continuogruppe enthält – auch die wurde bisher zum Nachteil der Wirkung des Stückes komplett unterschlagen.
Mittlerweile ist die Motette auch innerhalb von Band 13 der seit 2015 erscheinenden Gesamtausgabe der Werke Andreas Hammerschmidts erhältlich: Die in Altenburg ansässige Verlagsgruppe Kamprad hat sich in Zusammenarbeit mit dem Musikwissenschaftler Michael Heinemann zu dieser editorischen Großleistung aufgeschwungen, die im Übrigen auch eine Menge bisher schwer Zugängliches aus der Feder des Zittauer Meisters zu Tage fördert: Rund 700 Werke nämlich hat Hammerschmidt hinterlassen, und er war seinerzeit ein angesehener Komponist, der u. a. von seinem berühmten Kollegen Heinrich Schütz gelobt wurde.
Eindrucksvoll unterstreicht dieser Befund die Notwendigkeit, als Interpret in Quellen zu forschen, wie Jörg Breiding betont: Die bequeme Verfügbarkeit der immer gleichen Einzelstücke verdeckt leicht den Blick auf die tatsächliche Fülle verfügbaren Repertoires aus einer Epoche. In diesem Sinne hat Breiding mit dem Knabenchor Hannover schon 2005 für das Label Rondeau ein Hammerschmidt-Programm eingespielt, das unter dem Titel „Verleih uns Frieden“ einige Schätze aus dem reichen geistlichen Schaffen des Zittauer Kantors präsentiert. „Machet die Tore weit“ war damals noch nicht dabei – zum Glück vielleicht, sonst wäre es womöglich auch hier noch in der Kurzfassung erklungen, die nun vielleicht bald Geschichte ist. Der Verlag Kamprad hat sich nämlich entschlossen, eine Einzelausgabe der Motette in Originalgestalt zu produzieren. Hosianna!

Neu erschienen:

Diogenio Bigaglia

Missa in F

Knabenchor Hannover, la festa musicale, Jörg Breiding

Rondeau Production

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Andreas Hammerschmidt

Machet die Tore weit (Originalfassung)

Knabenchor Hannover, la festa musicale, Jörg Breiding

Rondeau Production

Aus dem Archiv in die Praxis

Der in Dresden lehrende Musikwissenschaftler Michael Heinemann gab der Verlagsgruppe Kamprad den Anstoß, eine Hammerschmidt-Gesamtausgabe in Angriff zu nehmen – und fand dafür beim Verlagschef Klaus-Jürgen Kamprad, selbst Musikwissenschaftler, ein offenes Ohr: Der Verlag ediert das Magazin „Concerto“ und arbeitet u. a. bereits an einer Johann-Melchior-Molter-Gesamtausgabe. Hammerschmidt passte ins Konzept, weil seine für Kantoreien komponierte Musik auch heute noch für Kirchenchöre aufführbar ist. Fünf der insgesamt 15 projektierten Hammerschmidt-Bände sind bereits erschienen, aus jedem werden einzelne Auskoppelungen für den praktischen Gebrauch angeboten. Zu „Machet die Tore weit“ wurde auch ein kleiner Film produziert, der auf der Homepage des Verlags zugänglich sein wird.

Michael Wersin, 15.12.2018, RONDO Ausgabe 6 / 2018



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