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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Bernard Martinez

Ophélie Gaillard 

London Calling

Auf einem barocken Streifzug entlang der Themse erkundet die Cellistin die unterschiedlichen Facetten der britischen Musikmetropole.

Für ein Album, welches den Namen „A Night in London“ trägt, ist die Trackliste des jüngsten Alben-Projekts von Ophélie Gaillard gleich auf den ersten Blick ziemlich multi-national aufgestellt. Eine Tatsache, die in der Post-Brexit-Ära durchaus auch als Signal zu verstehen ist. So betont die Cellistin im Gespräch immer wieder, dass die englische Metropole von jeher ein kultureller Schmelztiegel war, der die Besten der Besten aus ganz Europa an die Themse lockte. Da finden sich unter den ausgewählten Komponisten neben Italienern wie Francesco Geminiani oder Nicola Porpora ebenso Deutsche wie Johann Adolph Hasse oder der später von den Briten schamlos assimilierte „George Frideric Handel“. Und selbst bei den genuin englischen Komponistennamen ist der gute James Oswald von Selbstverständnis her genau genommen eher ein stolzer Schotte, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, neben irischen und englischen Melodien vor allem die traditionellen Lieder seiner Heimat für die Nachwelt festzuhalten und diese als „Curious Collection of Scots Tunes“ veröffentlichte. „Man kann das durchaus mit dem vergleichen, was Bartók zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Ungarn gemacht hat. Wie er war auch James Oswald auf der Suche nach seinen musikalischen Wurzeln und hat uns mit diesen Sammlungen eine überaus wichtige Arbeit geleistet.“
Der Titel ist für Ophélie Gaillard dabei durchaus in beiden Bedeutungen des englischen Wortes „curious“ zutreffend. „Einige dieser ‚Tunes‘ sind tatsächlich merkwürdig. Vor allem, wenn man sich die Texte etwas genauer ansieht, die oft eine sehr tragische Note haben. Gleichzeitig kann man es aber auch als Neugier auf wenig bekanntes musikalisches Material verstehen, in dem sich viele unterschiedliche Farben entdecken lassen.“ Spürbar wird diese Suche nach Klangschattierungen nicht zuletzt in der Nummer „She’s Sweetest When She’s Naked“, die gleich in doppelter Ausführung auf dem Album präsent ist. Zum Einstieg zunächst in einer feingliedrig gestalteten Solo-Variante, ehe die Melodie im letzten Drittel – eingebettet in weitere Kompositionen Oswalds – in größerem Format zurückkehrt. „Ich wollte dadurch zeigen, wie man als Ensemble zusammenwachsen kann. Es lässt sich sehr gut alleine spielen, aber eben auch als Mischung aus Cello-Stimme und menschlicher Stimme. Wodurch der Text noch einmal eine weitere Ebene öffnet. Und dann gibt es schließlich noch die mehrstimmige ‚Geminiani-Version‘.“

Verrückt nach Ohrwürmern

Mag der von Oswald inspirierte Geminiani im kollektiven Gedächtnis auch mehr als Violinvirtuose verortet sein, war er dennoch ein gleichermaßen versierter Cello-Spieler und somit geradezu prädestiniert für dieses Album. Dominieren doch vor allem Komponisten, die Gaillards Instrument nicht nur passiv, sondern auch selbst aktiv beherrschten. Genau wie Nicola Porpora, der mit seinem populären Konzert in G-Dur vertreten ist und damit neben „La Folia“ – Geminianis Hommage an seinen Lehrer Arcangelo Corelli – den wohl bekanntesten Ohrwurm beisteuert.
Gleichzeitig erhöhen aber auch einige Raritäten den Repertoirewert des Albums. So ist mit Giovanni Battista Cirri unter anderem ein Mann in den Fokus gerückt, der wohl eher nur barockinteressierten Cellistinnen und Cellisten ein Begriff war. „Er war nicht nur ein fantastischer Komponist und gefragter Kammermusiker, sondern wurde auch von vielen Sängerinnen und Sängern als Begleiter geschätzt. Eigentlich war er fast in derselben Position, in die ich mich auf diesem Album begebe. Er hat bei Opernaufführungen im Continuo gespielt, hat sich zwischen den Akten mit einem kurzen Konzert präsentiert und beendete seine Abende öfters in einer Taverne, wo er mit Volksmusikanten Oswald-Songs auf dem Cello gespielt hat. Weshalb wir uns erlaubt haben für einige der Vokalnummern ein paar Percussion-Instrumente, eine Harfe oder eine Gitarre hinzuzuholen.“
Mag sein Name heute auch leider im Schatten zahlreicher populärer Zeitgenossen stehen, war Cirri im damaligen Londoner Musikleben doch eine feste Größe und spielte hier unter anderem auch mit einem gerade einmal zehnjährigen Wunderkind namens Wolfgang Amadeus Mozart, als dieser der Stadt einen Besuch abstattete.
Diesen Part übernehmen auf „A Night in London“ nun eine Reihe von musikalischen Gästen, mit denen Ophélie Gaillard eine lange künstlerische Freundschaft verbindet. Unter anderem die Sängerinnen San­drine Piau, Lucile Richardot und Raquel Camarinha, sowie Gabriel Pidoux an der Oboe. So erlebt man kein übliches Cello-Rezital, sondern ein dramaturgisch klug konzipiertes und musikalisch ebenso breit gefächertes wie dicht gewobenes Konzeptalbum. „Wir haben uns bei der Auswahl von der Vielseitigkeit Cirris inspirieren lassen, der sich unglaublich natürlich zwischen den Genres bewegte.“ Und so findet sich neben genuiner Cello-Musik ebenso eine Arie aus Händels „Alcina“ und das Concerto grosso Opus 3/II des Komponisten. Abgerundet durch einen Auszug aus seiner Kantate „Ode for St. Cecilia’s Day“.
Wobei die Auswahl keineswegs nur betont, welche internationalen Einflüsse die musikalischen „Gastarbeiter“ auf die Insel brachten, sondern ebenso staunen lässt, welch deutliche Spuren die britische Volksmusik doch immer wieder in ihren Werken hinterlassen hat. Ein wahrhaft europäisches Album.

Neu erschienen:

Oswald, Avison, Porpora, Händel, Hasse u. a.

„A Night in London“

mit Gaillard, Piau, Richardot, Camarinha, Pidoux, Pulcinella Orchestra

Aparté/hm-Bertus

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Tobias Hell, 26.03.2022, RONDO Ausgabe 2 / 2022



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