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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Startseite · Interview · Gefragt

(c) Jean-Baptiste Millot

Cédric Tiberghien

Erweiterter Kontext

Der Pianist beginnt eine Einspielung aller Klaviervariationen Beethovens auf sechs Alben, kontrastiert mit Variationen weiterer Komponisten.

Mit einem ersten Preis beim Long-Thibaud-Wettbewerb 1998 in Paris startete der französische Pianist Cédric Tiberghien seine Karriere. Er debütierte 2000 in der New Yorker Carnegie Hall und wurde zusammen mit der Geigerin Alina Ibragimova 2018 für die Einspielung von Mozarts Violinsonaten mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Für das Interview erreichen wir ihn im fernen australischen Adelaide, einer Station seiner Australien-Tournee, in deren Zentrum Werke für präparierten Flügel von John Cage stehen.

RONDO: Herr Tiberghien, wie kamen Sie auf die Idee zu Ihrem Variationen-Projekt?
Cédric Tiberghien: Den Grundstein zu diesem Projekt hatte bereits vor vielen Jahren mein ehemaliger Lehrer Gérard Frémy am Pariser Conservatoire gelegt. Mit ihm haben wir zu dritt die kompletten Variationen von Beethoven aufgeführt. Er, ich und noch ein weiterer Student von ihm. Er sagte, wenn man sich mit Beethovens Variationen beschäftigt, dann sei das so, wie wenn man in die Küche geht, um dem Koch beim Zubereiten des Essens zuzusehen. Es sei wie ein Experimentierlabor. Beethoven habe darin viele Dinge ausprobiert, die nicht alle gelungen seien, er habe darin auch viele Ideen entwickelt, die er später in seinen Klaviersonaten umgesetzt hat. Ich habe damals eine Menge über seine Musik gelernt.

Auch eines Ihrer ersten Alben, das vor 20 Jahren erschien, drehte sich bereits um Beethoven-Variationen.
Ja, mit den „Eroica-Variationen“ als Hauptwerk. Das war damals ein großer Erfolg. Für das Konzept, Beethoven-Variationen im Kontext mit anderen Variationen zu spielen, ist allerdings der Direktor der Londoner Wigmore Hall John Gilhooly verantwortlich. Er wünschte sich, dass ich mich 2020 an den Feierlichkeiten um Beethovens 250. Geburtstag musikalisch beteilige. Ich bot ihm an, Beethovens komplette Variationen zu spielen. Er sagte: „Ja, okay. Da ich weiß, dass Sie gerne Verbindungen zwischen verschiedenen Komponisten schaffen, gebe ich Ihnen sechs anstelle von drei Recitals. Darin können Sie spielen, was Sie wollen.“

Das ist sehr großzügig.
Ja. Es stellte aber auch eine große Herausforderung dar. Denn neben den kompletten Variationen von Beethoven wollte ich Stücke auswählen, die die Geschichte der Variationsform von der Barockzeit bis ins 21. Jahrhundert nachzeichnen. Dafür musste ich Entscheidungen treffen, die sehr schwierig waren, weil es so viele fantastische Werke gibt. Aber nach langem Nachdenken und Ausprobieren kam ich auf sechs Programme, die ich dann auch für die Aufnahmen eingeplant habe.

Welche Stücke außer Beethoven haben Sie denn ausgewählt?
Die frühesten Variationen stammen vom niederländischen Barockkomponisten Jan Pieterszoon Sweelinck, die mich in ihrer Schönheit unmittelbar berührten. Außerdem wollte ich etwas von Bach dazunehmen, allerdings nicht die „Goldberg-Variationen“, sondern einen anderen Zyklus: die ebenfalls sehr schöne „Aria variata alla maniera italiana“.

Mozarts A-Dur-Sonate ist auch dabei, oder?
Genau, die ist im ersten Album enthalten; sie hat so einen wunderschönen ersten Satz. Im zweiten Album finden sich dann Variationen von Schumann und von Anton Webern. Im 20. Jahrhundert gibt es ja einige Variationen für Klavier, aber es sind nur wenige, die Komponisten haben zu jener Zeit eher mit anderen kompositorischen Verfahren gearbeitet. Als ich dieses Stück vor langer Zeit gelernt habe, war ich erstaunt über die mathematische Struktur. Aber es ist trotzdem unglaublich bewegend. Man kann es sehr abstrakt spielen, aber für mich ist es ein absolut expressionistisches Stück, in dem jede Harmonie, jedes Intervall spricht. Und wie auch viele Stücke von Arnold Schönberg passt es perfekt zu Beethoven, stellt seine Musik in einen ganz neuen Kontext.

Was ist mit Johannes Brahms?
Er hat so viele Variationen geschrieben, die man jedoch alle gut kennt. Deshalb habe ich diese bewusst weggelassen und mich für Schumann entschieden. Denn Schumann hat viele schöne Variationen geschrieben, und einige davon sind nicht so bekannt, etwa die „Variationen über ein Thema von Beethoven“.

Gibt es außer Webern weitere Komponisten des 20. oder 21. Jahrhunderts, die Sie für das CD-Projekt ausgewählt haben?
Ja. Zum Beispiel John Cage, Morton Feldman und George Crumb. Sie arbeiten zum Teil mit sehr wenig Material. Zum Beispiel Crumb in seinem Stück „Prozession“. Darin wird 200 Mal derselbe Akkord wiederholt, er verändert sich nur in Details, und man weiß nie, wann das passiert. Oder Cage. Er geht von der Stille aus und fragt sich, wie man die Stille verändern kann. Dann spielt man eine Note, die zufällig erscheint, jedoch eigentlich nie zufällig ist. Wenn er eine Note schreibt, ist das eigentlich nur eine Art Variation der Stille. Außerdem werde ich von György Ligeti die „Musica ricercata“ einspielen und einige von György Kurtágs „Blumenstücken“. Solche Werke bringen mich dazu, auf eine ganz neue Weise über den Begriff „Variation“ nachzudenken.
Das Ganze ist sicherlich ein herausforderndes Projekt, das meine Neugier widerspiegelt. Denn ich liebe es, das Repertoire zu erkunden und fordere das Publikum auch gerne heraus. Ich denke, es ist wichtig, die Leute dazu zu bringen, aktiv zuzuhören und sich auch mal ein bisschen zu wundern.

Neu erschienen:

Ludwig van Beethoven

Sämtliche Variationen für Klavier, Vol. 1

Cédric Tiberghien

2 CDs, hm-Bertus

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Mario-Felix Vogt, 08.04.2023, RONDO Ausgabe 2 / 2023



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