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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



Startseite · Interview · Gefragt

(c) Markus Jans

Víkingur Ólafsson

Enzyklopädie der Tastenkunst

Der Pianist hat Bachs „Goldberg-Variationen“ aufgenommen und tourt mit dem Gipfelwerk ein Jahr lang um die ganze Welt.

Wir treffen uns morgens um 8.30 Uhr in der „Piano Suite“ in Schloss Elmau. Am Vorabend hat Ólafsson vor mucksmäuschenstillem Publikum das zweite Release-Konzert im legendären Konzertsaal des berühmten Hotels gespielt. In den Bergen ticken die Uhren anders, die frühe Uhrzeit ist kein Problem, Ólafsson wirkt ausgesprochen munter.

Víkingur Ólafsson: Ich wache sehr früh auf, wenn ich gespielt habe. Das hat wohl etwas mit dem Adrenalin zu tun. Heute morgen war ich im Pool allein mit mir und den Alpen.

RONDO: Sie haben gesagt, dass Sie 30 Jahre lang geträumt hätten von dieser Aufnahme. Können Sie sich an Ihre erste Begegnung mit dem Werk erinnern?
Absolut! Wie bei so vielen war das mit einem gewissen kanadischen Pianisten namens Glenn Gould … Es war nicht nur die Musik, sondern auch die Art und Weise, wie er Klavier spielte, das war absolut neu für mich.

Sie meinen diesen trockenen, harten Anschlag, die Präzision?
Ja, aber auch die Art und Weise, wie er Kontrapunkt und Polyphonie spielt. Er schafft es, dass man viele Dinge zur gleichen Zeit hört. Er macht das Klavier von einem Einzelinstrument zu einer Multi-Instrument-Maschine. Zuerst war ich also total fasziniert von seiner Art zu spielen und dann von dem Stück natürlich. Je älter du wirst mit diesem Stück, umso klarer wird es, dass es so etwas ist wie ein Lexikon der Kunst, für ein Tasteninstrument zu schreiben. Es beinhaltet und eröffnet alle denkbaren Möglichkeiten, ich sehe viele Elemente, die in der Musikgeschichte erst viel später kamen! Bach hat alle Möglichkeiten angelegt für die nächsten Generationen.

Ist es so etwas wie eine Enzyklopädie?
Genau, für mich ist es das. Aber es ist auch mehr als nur das. Denn zugleich schafft er es, etwas auszudrücken, das uns erhebt. Wie zu einem Gipfel der Alpen, Du gehst hinauf und auf dem Weg siehst du unglaubliche Dinge. Und wie in der Odyssee kommst du irgendwann nach Hause. Wenn die Wiederholung der Aria kommt, ist das wie ein Nachhausekommen nach ganz vielen Erfahrungen und Erlebnissen …

Wie in der h-Moll-Messe das „Dona nobis pacem“ – es öffnet den Himmel?
Ja, unglaublich. Viele Kollegen sprechen vom „Quodlibet“ eher in humoriger Weise. Sicher, das Quodlibet als musikalische Form ist eigentlich so etwas wie ein Mischmasch. Aber dieses Quodlibet ist ein Triumph! Ich empfinde es so, als sei es Bachs „Alle Menschen werden Brüder“. Ein Statement!

Die „Goldberg-Variationen“ sind ziemlich unvergleichlich, höchstens vielleicht mit der „Kunst der Fuge“?
Ich glaube, sie sind absolut unvergleichlich. Wie kann man so viel aus so begrenztem Material herausholen? Wenn man das Stück spielt und über die Dramaturgie der „Goldberg-Variationen“ nachdenkt: Ich habe zum Spaß die Stücke in anderer Reihenfolge gespielt. Nicht im Konzert, aber dann merkt man, wie brillant Bach das organisiert hat und wie logisch es ist, dass Variation 2 auf Variation 1 folgt, und dass die Aria am Schluss wiederholt wird. Was wären die „Goldberg-Variationen“ ohne die Aria am Schluss? Ein komplett anderes Ding.

Kann man das Gesamtwerk als Crescendo beschreiben oder sind es eher Wellen?
Eher so wie die „Alpensinfonie“, es gibt Höhepunkte und Täler. Und dann immer wieder diese unglaublichen Kanons. Die Kanons überhaupt! Sie sind eigentlich ein eigenes Stück innerhalb des Werks …

Gab es noch andere Inspirationen außer Glenn Gould?
Nicht wirklich, aber es gibt viele Aufnahmen, die ich sehr schätze, z.B. die von Murray Perahia.

Bei Perahia gibt es schon beinahe impressionistische Farben …
Das hat auch mit den Mikrofonen zu tun, die Mikros waren weiter weg vom Klavier. Für den Bach-Klang ist mir beides sehr wichtig, extreme Klarheit und Wärme. So, dass es zu dir spricht, so funktioniert die Polyphonie am besten. Ich liebe zum Beispiel auch Edwin Fischers Aufnahme vom „Wohltemperierten Klavier“. Aber in der Summe: Es ist das persönlichste Stück Musik, das du spielen kannst und du musst ganz du selbst sein. In dieses Werk geht man so tief rein, es wird ein Stück von dir.

Was denken Sie vom historisch informierten Ansatz?
Ich lerne von Harnoncourt und anderen, wie Jordi Savall. Aber historisch informiert, was soll das eigentlich heißen? Ich kann informiert sein über die Cembalo-Anschlagstechnik und über Edwin Fischers Interpretation. Das ist auch historisch informiert. Ich meine, wo hört es auf? Vieles ist Nonsense in dieser Diskussion, denn sie ist vereinfacht. Ich denke, wenn Bach einen Steinway D-Flügel sehen würde, wäre er beeindruckt und würde ihn als ein sehr interessantes Instrument begreifen.

Sie haben die „Goldberg-Variationen“ verglichen mit dem Wuchs einer Eiche …
Ich wollte weg von der Idee der Kathedrale. Ich empfinde die Variationen heute eher als etwas Organisches. Man kann sie nicht total kontrollieren, sie sind wie ein lebendiges Ding.

Sie haben gestern andere Tempi gespielt als in der Aufnahme, oder?
Total andere Tempi zum Teil! Ich werde sie jetzt 88 Mal spielen. Variation 9 zum Beispiel (geht zum Klavier …) klingt in der Aufnahme so … Aber hier hatte ich einen langen Tag mit viel Ruhe. Also spiele ich halb so schnell. Ich denke, es gibt kein einzig richtiges Tempo. Es gibt auch keine einzig gültige Stimmung, du wachst auf und fühlst dich jeden Tag anders.

Und die Umgebung hier, es ist anders als in Buenos Aires!
Es sind auch die Leute, die zuhören, das Instrument, die Akustik … alles kommt zusammen. Ich denke, nach 88 Konzerten im Juni 2024 wird es sehr anders sein. Es sind einfach drei verschiedene Sachen, das Konzert gestern, die Platte und nächstes Jahr …

Also ist die Aufnahme kein Ersatz für das Konzert … man sollte beides erleben?
Genau! Das Studio ist eine andere Kunstform. Wir sollten es umarmen, dass es zwei verschiedene Kunstformen sind! Man kann in der Carnegie-Hall nicht wie im Studio spielen. Im Studio zählt jeder Millimeter, im Saal wird mehr vergeben. Idealerweise würden die Menschen das getrennt hören, als zwei verschiedene Dinge. Die Aufnahme als Idealfall und das Konzert als das Odyssee-Gefühl, als große Reise.

Bach hat seine Werke mit „Soli Deo gloria“ signiert, braucht man Religiosität, um Bach zu verstehen?
Man sollte geerdet sein und innere Ruhe finden. Das kannst Du durch Religion, durch Meditation oder Naturbeobachtung erreichen. Sonst ist es fast unmöglich, das zu spielen, überhaupt Bach. Man muss die Verbindung fühlen mit dem Boden, während man in den Himmel schaut.

Über Bach persönlich ist wenig bekannt…
Wir wissen wenig, die Briefe sind so uninteressant, das ist schon wieder interessant. Ich denke an die 20 Kinder und die drei Frauen, all die Pflichten. Es wird mir immer mysteriöser, wie viel er geschrieben hat. Ich kann es nicht erklären. Er ist ein Enigma. Und die „Goldberg-Variationen“ sind auch ein Enigma. Ein Teil der Liebe zu ihm ist, ihn nicht zu verstehen – wenn andere an Gott denken, denke ich an Bach.

Sie kennen den Ausspruch von Mauricio Kagel: „Nicht alle Musiker glauben an Gott, aber alle glauben an Johann Sebastian Bach“?
Alle großen Komponisten hatten eine Affinität zu Bach und zu Mozart. Bach ist wie Shakespeare, er ist eine große Quelle, für uns alle.

Johann Sebastian Bach

Die „Goldberg-Variationen“, BWV 988

Víkingur Ólafsson

DG/Universal

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Regine Müller, 14.10.2023, RONDO Ausgabe 5 / 2023



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