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am 04.05.2024



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Eine Neuaufnahme des Dvořák-Klavierkonzerts mit Leonardo Pierdomenico erscheint im November (c) Greta Burtini

Pieter van Winkel

Den ganzen Bach, bitte!

Mit Brilliant Classics und Piano Classics brachte der niederländische Pianist und Labelgründer frischen Wind in die Musiklandschaft.

Der Niederländer Pieter van Winkel findet, dass klassische Musik einem breiten Publikum zugänglich sein sollte. Viele Menschen jedoch, die nicht über eine bestimmte musikalische Vorbildung verfügen, trauen sich nicht in die CD-Geschäfte. „Diese Läden können für musikalisch wenig gebildete Leute sehr einschüchternd sein“, betont van Winkel. Außerdem sind CDs dort recht teuer. Die CDs, die van Winkel verkaufen wollte, sollten also günstig sein und außerhalb des Fachhandels zu erwerben. 1995 rief er in Leeuwarden das Label Brilliant Classics ins Leben: „Unsere ersten Aufnahmen waren die kompletten Klavierwerke von Chopin“, erinnert sich van Winkel, „mit vielen niederländischen Pianisten.“ Die Brilliant-CDs kosteten deutlich weniger als die normalen Klassik-CDs, sie wurden zunächst ausschließlich in den Filialen von Kruidvat verkauft, einer Drogeriekette in den Niederlanden. „Der Erfolg war immens“, fährt van Winkel fort, also dehnte er den Vertrieb auf andere Länder aus. Damit gelang es dem Niederländer, klassische Musik auf einem Massenmarkt abzusetzen, während die meisten Klassik-Labels an ein spezialisiertes Publikum verkaufen. In Großbritannien fand man die Brilliant-Aufnahmen in den Läden der Drogerie­kette Superdrug, in Deutschland bei Aldi und Rossmann.
Eine weitere Besonderheit von Brilliant war, dass es zunächst vor allem Gesamteinspielungen von Werken berühmter Komponisten im Programm hatte. Durch diese enzyklopädische Strategie grenzte man sich klar von irgendwelchen „Best of Klassik“-Alben ab, die üblicherweise in Drogerien und Discountern dominierten. Bei Brilliant gab es „den ganzen Bach“ auf 155 CDs für sage und schreibe 100 DM. Später kamen Gesamtaufnahmen von Mozart, Beethoven und Brahms hinzu. Einige dieser Gesamtaufnahmen liefen sensationell gut. So verkaufte sich allein die Bach-Box über 500 000 Mal.
Die Aufnahmen der Boxen waren oft ein Mix aus Aufnahmen traditioneller Künstler und historisch-informierten Einspielungen. Da finden sich dann in der Zusammenstellung mit dem kompletten Mozart Aufnahmen des Philharmonia Orchestra unter Paul Freeman, der Staatskapelle Dresden unter Herbert Blomstedt oder von Pieter van Winkels Frau, der Pianistin Klára Würtz. Auf der anderen Seite enthält die Box auch historisch-informierte Aufnahmen von der Mozart Akademie Amsterdam unter Jaap ter Linden, von La Petite Bande unter Sigiswald Kuijken und vom Hammerflügel-Spieler Bart van Oort.
2007 wurde Brilliant Classics zu einem Teil von Foreign Media Music, einem Unternehmen der Foreign Media Group (FMG), ebenfalls mit Sitz in Leeuwarden. Im September 2010 übernahm die niederländische Investmentgesellschaft Triacta B.V. das Label, das sie schließlich an den Hamburger Medienkonzern Edel weiterverkaufte. Seit 2000 hat Brilliant Classics mehr als hundert Veröffentlichungen pro Jahr herausgebracht, darunter durchschnittlich mehr als sechs Neuaufnahmen pro Monat. Und Brilliant Classics hat sich mittlerweile auch neu aufgestellt. Es ist kein Discount-Label mehr, sondern eher im Midprice-Segment angesiedelt, die großen Editionen sind kleineren CD-Boxen und Einzel-CDs gewichen. Repertoireschwerpunkte sind Renaissance- und Barock-Vokalmusik, Kammermusik der Klassik und Komponisten aus der Zeit um die Jahrhundertwende sowie minimalistische Klaviermusik.
Da Pieter van Winkel nicht nur Labelchef, sondern auch Pianist ist, hatte er immer den Traum, ein Klaviermusik-Label zu gründen. 2011 rief er zusammen mit Jeremy Elliott Piano Classics ins Leben. Wie bereits bei Brilliant kommen dort zum einen Aufnahmen älterer, auch historischer Pianisten zur Wiederveröffentlichung, zum anderen werden Neuaufnahmen mit durchwegs exzellenten, Großteils ziemlich jungen Tastenkünstlern produziert.
Der Blick in die Schatzkiste lohnt: Unter den Wiederveröffentlichungen finden sich solche Juwelen wie Brahms-Aufnahmen von Bruno Leonardo Gelber (Dritte Klaviersonate, „Händel-Variationen“), Liszt-Einspielungen von Earl Wild und Jorge Bolet oder die Liszt-Transkriptionen von Beethovens Sinfonien, interpretiert von Cyprien Katsaris. Auch bei den Neueinspielungen gibt es so manche Perle, etwa die ebenso virtuose wie poetische Einspielung der Chopin-Etüden durch die russische Pianistin Zlata Chochieva, auch ein fantastisches Album mit der Schumann-Fantasie und den „Symphonischen Etüden“, gespielt vom lettischen Pianisten Naum Grubert. Oder die kraftvollen Liszt-Aufnahmen des Ukrainers Alexander Gavrylyuk. Ein Komponist, der bei Piano Classics eine besondere Rolle spielt, ist Charles Valentin Alkan. Der britische Pianist Mark Viner arbeitet zurzeit an einer 17 CDs umfassenden Gesamtaufnahme der Klavierwerke des französischen Exzentrikers. Im Dezember erscheint die sechste CD mit dem Titel „Charakterstücke und Groteskerien“. Des Weiteren wird eine Neuaufnahme vom viel zu selten gespielten Dvořák-Klavierkonzert erscheinen, mit dem Italiener Leonardo Pierdomenico als Solisten.
Aber auch von Brilliant gibt es interessante Neuerscheinungen. Neben einer Wiederveröffentlichung sämtlicher Beethoven-Sinfonien, die Philippe Herreweghe mit dem Königlich Flämischen Philharmonie ursprünglich für Pentatone einspielte, kam Anfang November die bisher wohl umfassendste Sammlung von Claudio Monteverdis Vokal- und Instrumentalwerken auf den Markt.
Auf 30 CDs finden sich da seine drei bedeutendsten Opern sowie eine Reihe von Messen und Madrigalen, interpretiert von renommierten Alte-Musik-Interpreten wie Gabriella Martellacci, Sergio Vartolo oder Le Nuove Musiche unter Krijn Koetsveld.
Brilliant Classics veröffentlicht zwar viel Alte Musik, dennoch versucht man technisch am Puls der Zeit zu bleiben, weshalb die meisten Alben auch bei Streaming-Portalen verfügbar sind. Da viele, vor allem jüngere Menschen die großen Komponisten und deren Werke nicht mehr kennen, haben diese zumindest die Möglichkeit, sich beispielsweise Musik zum Lernen, Schlafen oder Entspannen empfehlen zu lassen. Die Suchmaschine „Free Text Search“ des Start-up-Unternehmens Cyanite macht das möglich. „Wir arbeiten mit Cyanite zusammen“, erklärt Jeroen Vreugdenhil, der Geschäftsführer von Brilliant Classics, „so bringen wir unsere Musik auch an die Jugend.“

Weitere Infos und Neuerscheinungen:
www.brilliantclassics.com
www.piano-classics.com

Mario-Felix Vogt, 02.12.2023, RONDO Ausgabe 6 / 2023



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