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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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(c) Nancy Horowitz

Tzimon Barto

Bach vom Bodybuilder

Barto ist Pianist, Bodybuilder und Romanautor – nun hat er Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ aufgenommen.

In den 1990er Jahren war Tzimon Barto der Popstar unter den amerikanischen Klassik-Künstlern. Seine damalige Plattenfirma EMI präsentierte ihn als eine Art Arnold Schwarzenegger am Flügel. Denn Barto trainierte nicht nur fleißig seine Finger, sondern auch Brust- und Bauchmuskeln und wurde nicht nur als brillanter Liszt- und Rachmaninow-Interpret gefeiert, sondern auch als Bodybuilder. Manch konservativer Klassik-Liebhaber nahm ihn damals nicht ernst. Barto sei ein Marketing-Produkt, ein Schönling, ein pianistischer Feuerwerker, jedoch kein seriöser Interpret. Diese Leute hatten sich jedoch nicht eingehender damit beschäftigt, was Barto zu bieten hat. Der 1963 in Eustis (Florida) als Johnny Barto Smith geborene Künstler vereint multiple Talente in sich. So spricht er fünf Sprachen fließend (Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch und Spanisch). Außerdem liest er Altgriechisch, Latein und Hebräisch, und schreibt Romane. „Deutsch lernte ich, weil ich die Texte der deutschen Opern verstehen wollte“, erklärt Barto. Zur Oper kam er über seine Großmutter, sie gab ihm im Alter von fünf Jahren den ersten Klavierunterricht.
Seinen internationalen Durchbruch hatte Barto Mitte der 1980er Jahre, als ihn Herbert von Karajan einlud, bei den Salzburger Festspielen aufzutreten. Seit jener Zeit ist der Amerikaner mit nahezu allen führenden Orchestern bei den großen Festivals zu Gast gewesen. In den 1990er Jahren kam dann jäh der Absturz. Die EMI ließ ihn fallen, Barto landete wegen Drogendelikten im Knast, außerdem verlor er im Laufe der Jahre seine beiden Kinder. 13 Jahre lang veröffentlichte er keine einzige CD; erst 2006 tauchte er wieder aus der Versenkung auf und präsentierte ein Album mit Haydn-Sonaten, das sehr polarisierte.

Mehr zum Thema im RONDO-Podcast „Notenköpfe“

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Auch Bartos Bach-Spiel dürfte kontrovers diskutiert werden. Bereits im Frühjahr dieses Jahres erschien der erste Band des „Wohltemperierten Klaviers“, rein digital beim französischen Label naïve, Mitte September folgte Band II ebenfalls im Digitalformat. Zusätzlich bietet das Berliner Kulturkaufhaus Dussmann nun beide Bände des Bach’schen Zyklus in einer hochwertigen Geschenkbox an, die sechs CDs und drei Vinyl-LP umfasst. Wer Bachs Klavierwerke über die strukturbetonten Aufnahmen von Glenn Gould oder Keith Jarrett kennengelernt hat, wird bei Barto in eine komplett andere Welt geführt. Barto spielt Bach mit romantisch warmem Ton, reichlich Pedal und sinniert in feinen Piano- und Pianissimo-Schattierungen, bisweilen hauchig bis an die Hörbarkeitsschwelle. So klingen Bachs Präludien unter seinen Händen oft eher nach Debussys Préludes, etwa im Cis-Dur-Präludium BWV 872. Zugegeben, seine Neigung, Phrasenenden plötzlich dynamisch so zurückzunehmen, als verschluckte er diese, wirkt dabei doch etwas manieriert. Auf der anderen Seite spielt er manche Fuge sehr akzentuiert im Staccato à la Gould.
Wahrscheinlich wird Bartos romantisch-subjektivistisches Bach-Spiel nicht jedem gefallen, dennoch sollte man respektieren, dass hier ein hochrangiger Künstler auf klanglich hochdifferenziertem Niveau seinen persönlichen Zugang zu Bach gesucht – und gefunden hat.

Neu erschienen:

Tzimon Barto
Johann Sebastian Bach
Das Wohltemperierte Klavier, Buch I & II
6 CDs und 3 Vinyl-LPs, zu beziehen über
www.kulturkaufhaus.de

Mario-Felix Vogt, 09.12.2023, RONDO Ausgabe 6 / 2023



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