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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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(c) Kaupo Kikkas

Niklas Liepe

Kipppunkte

Mit seinem neuen Album bezieht der Geiger künstlerisch Stellung zum Thema Klimawandel: ein großes Projekt.

Welche Auswirkungen der Klimawandel auf die Natur hat, wurde Niklas Liepe unmittelbar bewusst, als er sich vor einigen Jahren im Urlaub in Südtirol befand. Hier traf der Geiger auf eine beeindruckende Naturlandschaft, die sich auf ausgedehnten Wanderungen jedoch bald als weniger intakt erwies, als es der erste Eindruck vermuten ließ. „Man folgt dem Wegweiser zu einem berühmten Gletscher und dann steht man auf einmal vor etwas, was allenfalls der Rest davon sein könnte.“ Auch das Wüten des Borkenkäfers, einem großen Profiteur der Klimaerwärmung, konnte Liepe aus unmittelbarer Nähe beobachten. Tote Bäume an jeder Ecke des sonst so dichten Gebirgswalds: „Ich habe wirklich gesehen, wie der Wald stirbt.“ Nachdenklich trat er die Heimreise an. Im Radio stieß er dabei auf den „Earth Song“, ein A-cappella-Stück der britischen Komponistin Rachel Portman mit einem Text des Lyrikers und Dramatikers Nick Drake, das sich genau mit eben jener Thematik auseinandersetzte, die Liepe in diesem Moment so intensiv bewegte. Eine Schicksalsfügung: „Manchmal entsteht die Idee zu einem Projekt innerhalb einer Sekunde.“
Das Projekt, das sich so schlagartig im Kopf des Geigers entwickelte, liegt nun in Form eines umfangreichen Albums vor. Sein Titel „Tipping Points“ („Kipppunkte“), stellt unmittelbare Assoziationen zu den klimapolitischen Herausforderungen und Diskussionen unserer Zeit her, zum Raubbau, den die Menschheit am Planeten betreibt, und die Frage, wie lange er diesem noch standhalten kann. Sich hierzu dezidiert als Künstler einzubringen und Rachel Portman mit an Bord zu holen, stand für Niklas Liepe von Anfang an fest. Der Austausch mit der Komponistin, die vor allem als Filmmusikautorin berühmt wurde und für ihren Score zur Jane-Austen-Verfilmung „Emma“ 1997 sogar einen Oscar erhielt, begann mit einer E-Mail. „Meine Idee war es, auf diesem Album die vier Jahreszeiten in den Blick zu nehmen, die sich – wie jeder sehen kann – durch den Klimawandel deutlich verändert haben“, sagt Liepe. Er bat Rachel Portman, ihm eine in Klang und Ausdruck „aktualisierte“ Fassung von Vivaldis Konzert-Zyklus für großes Sinfonieorchester zu komponieren. „Doch sie schlug vor, statt der Jahreszeiten die vier ‚klassischen‘ Elemente als Grundlage zu nehmen.“ Auch anhand von Luft, Wasser, Feuer und Erde lässt sich viel über den Klimawandel erzählen, und so entstand eine um eine „Anrufung“ und einen „Epilog“ erweiterte sechssätzige Suite zu diesem Themenkreis, für Solo-Violine und großes Orchester. Sie trägt den gleichen Titel wie das Album: „Tipping Points“.

Vivaldi in hintergründiger Fortschreibung

Das mal elegische, mal trotzig auftrumpfende, in traditioneller Harmonik geschriebene Stück taucht gleich zwei Mal auf: einmal am Anfang und einmal am Schluss der Produktion, wobei die Reprise die eigentliche Originalgestalt verkörpert. „Nick Drake hat zu jedem Satz ein Gedicht geschrieben“, sagt Niklas Liepe, „diese Gedichte sind fester Bestandteil der Komposition und werden den musikalischen Teilen jeweils vorangestellt.“ Die Einbeziehung des Dichters, der auch schon den Text zum „Earth Song“ geschrieben hat, war ebenso früh beschlossene Sache wie die musikalische Zusammenarbeit mit dem WDR Funkhausorchester. Auch die Dirigentin Erina Yashima, die Portmans Partitur in schillernde Orchesterfarben und klingende Emotion übersetzt, stand von Anfang an auf Liepes Wunschliste. Beide kennen sich noch aus ihrer Studienzeit an der Musikhochschule Hannover, wo Liepe bereits als Frühstudent in der Klasse von Krzysztof Węgrzyn studierte. Seine spätere Ausbildung führte ihn dann mit Zakhar Bron und Ana Chumacenco zu zwei nicht minder legendären Lehrerpersönlichkeiten.
Mit einem so umfangreichen Werk im Mittelpunkt, das zudem noch eigens in Auftrag gegeben wurde, ist Liepes neues Album an sich schon ein ehrgeiziges Projekt. Doch darüber hinaus ist er auch seiner Ursprungsidee treu geblieben, mit Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ den Prototypen der musikalischen Naturschilderung miteinzubeziehen, der hier in einem neuen, zeitgenössischen Klanggewand in der Mitte Platz gefunden hat. Dafür konnte er den Komponisten, Arrangeur, Dirigenten und Produzenten Wolf Kerschek gewinnen, der für seine Neuauflage des barocken Meisterwerks in großer, cinematischer Orchesterbesetzung neben klassischen Standards auch viel mit Einflüssen aus Jazz und Pop spielt. Dabei sorgt diesmal Patrick Lange für die musikalische Umsetzung am Pult. Schon an Liepes Vorgänger-Album mit neu arrangierten Versionen von Bachs „Goldberg-Variationen“ war Kerschek beteiligt, hatte dort bereits seine Unbefangenheit im Umgang mit großen Meisterwerken unter Beweis gestellt. Im Fall des Vivaldi-Klassikers setzt er auf hintergründige Fortschreibungen, und betrachtet – unter Verwendung rhythmischer, harmonischer und instrumentationstechnischer Kniffe – die an sich schon erzählfreudigen Episoden wie durch eine Art musikalisches Fernglas.
Bei manchen von Vivaldis Pointen setzt er noch einen drauf, wenn etwa der Rausch der betrunkenen Bauern im „Herbst“ zum handfesten Gelage mit einer Art Bigband-Begleitung umgedeutet wird oder die Jäger im Schlusssatz des gleichen Konzerts mit modernster Waffentechnik auf die Pirsch gehen. Doch auch die klimatischen Aspekte der Jahreszeiten – und damit getreu dem Titel „Kipppunkte“ – rücken in Kerscheks Lesart in verschärfter Form in den Fokus. So verwandelt sich die drückende Mittagshitze des „Sommers“ im Zeitalter der globalen Erwärmung in einen lebensbedrohenden Zustand. „Bei diesem Album handelt es sich nicht um ein politisches Statement“, betont Niklas Liepe. Als Künstler ist es für ihn aber wichtig, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Stellung zu beziehen zu einem Thema, das uns alle angeht.

Neu erschienen:

Rachel Portman, Antonio Vivaldi (arr. Wolf Kerschek)

Tipping Points, The New Four Seasons

Niklas Liepe, WDR Funkhausorchester, Erina Yashima, Patrick Lange

2 CDs, Sony

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Stephan Schwarz-Peters, 23.03.2024, RONDO Ausgabe 2 / 2024



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