Als die sephardischen Juden vor etwa 500 Jahren von der iberischen Halbinsel vertrieben wurden, siedelten sich viele von ihnen im Mittelmeerraum an, vor allem im Maghreb und im osmanischen Reich. Obgleich ihre Musik spanisch geprägt blieb, flossen doch Eindrücke der Gastländer stark in ihre faszinierende Musiktradition ein. Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden erste Aufnahmen sephardischer Musik. Es waren Männer wie etwa der Türke Haim Effendi, Victoria Hazan oder Isaac Angel, der das amerikanische Label »Angel« gründet. Ihre Stimmen gehen im Rauschen unter wie Gesichter der Vorzeit auf vergilbten Fotos, und doch erregen sie in ihrer Eindringlichkeit so viel Aufmerksamkeit, dass man es geradezu mutig findet, wenn die serbische Gruppe Shira u’tfila die zweite CD ihrer Zusammenstellung »Biviendo en Kantando« den altehrwürdigen Schellacks aus Istanbul, New York, Los Angeles und Thessaloniki überlässt, während sie selbst mit fast gleichem Programm die erste Scheibe bestreitet. Das vom Oud-Spieler und Sänger Stefan Sablic angeführte Ensemble ist multi-ethnisch und improvisationsfreudig. Es bietet keine musealen Kopien, sondern stil- und fantasievolle Neuinterpretationen im Rahmen behutsam modernisierter Tradition (Shira u’tfila: Biviendo en Kantando. Fréa Records/SunnyMoon MWCD 4063).
»Nha Sentimento« heißt das aktuelle Album von Cesária Évora, der barfüßigen, rundlichen Diva der Kapverdischen Inseln. »Meine Gefühle«, so könnte man den Titel übersetzen, das bedeutet in ihrer gutmütigen Klangwelt seit jeher Wehmut, doch es gehören auch Hoffnung und der stete Blick nach vorn dazu, nicht erst seit die kreolische Billie Holiday 2008 einen Schlaganfall erlitt. Als diese Aufnahmen 2009 entstanden, klang die Évora, wenn auch nicht angeschlagen, so doch deutlich verhaltener. Zwar enthält das Album (dessen 14 Lieder zum großen Teil aus der Feder von Teofilo Chantre stammen) viele Coladeiras, so nennt man die tanzbaren, lustigeren, etwa mit der Samba vergleichbaren Lieder. Und doch bleibt sie die Königin der Morna, einer an Fado, Tango und Choro gemahnenden, im Gehalt oft mit dem Blues verglichenen Musik. In der unprätentiösen Natürlichkeit ihres Gesanges ist sie schon lange die ideale Interpretin: schlichte, oft fallende Melodiebögen, Ökonomie der Ausdrucksmittel, Rubato – das ist die Évora, wie man sie liebt, wenn auch gealtert. Und wie beim Blues verwandelt sich die Trauer in Trost, den sie als sanften Balsam melancholischer Milde darreicht. Die Mornas auf diesem Album werden überraschenderweise von einem Orchester aus Kairo begleitet – eine »exotische« Kombination, doch soll die Morna ja auch arabische Wurzeln haben. Obwohl Cesária Évora nie unglücklich klingt, wirkt sie fast immer traurig. Vielleicht liegt darin ihr Geheimnis. (Cesária Évora: Nha Sentimento. Tropical Music/Sony Music 76491 68870-2)
Erlebt man heute eine altersgemäß noch zurückhaltendere Cesária Évora, so tritt uns eine andere Grande Dame portugiesischer Zunge der gleichen Generation, die Brasilianerin Maria Bethânia, mit ungebrochener Vitalität gegenüber. Wie guter Wein, nicht gealtert, sondern nur gereift, ist die bewegende Ausdruckskraft ihrer Stimme. Zieht man in Betracht, dass sie seit einigen Jahren keine Zugeständnisse an ihr früheres Massenpublikum mehr macht, kann man künstlerisch sogar von Verjüngung reden. »Encanteria«, ihr in der Tat verzauberndes Album mit Gastauftritten von Gilberto Gil und Caetano Veloso, lebt von seiner festlichen Gestimmtheit. Die gläubige Feierlichkeit der religiösen Feste ihres heimatlichen Bahia, ihre Andacht in den Gesängen an Santa Barbara und Maria übertragen sich direkt auf den Hörer. In tänzerischer Leichtigkeit dahinschwebende, fröhliche Sambaklänge und Rhythmen durchziehen das mit 33 Minuten kurze, aber auch sehr kurzweilige Album. (Maria Bethânia: Encanteria. Discmedi blau/Galileo DM4714)
Marcus A. Woelfle, 15.02.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2010
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