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N° 1356
04. - 12.05.2024

nächste Aktualisierung
am 11.05.2024



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02. — 08. September 2023

Düsseldorf Festival

Schräger Programm-Mix für ein diverses Publikum
Als 1991 der erste „Altstadtherbst“ von einer Privatinitiative ins Leben gerufen wurde, galt das Projekt als heiteres Experiment, das womöglich eine Eintagsfliege bleiben würde. Die ursprüngliche Idee war simpel, aber doch erstaunlich ausbaufähig: Die Macher wollten dem damals schon ramponierten, bierseligen Image der Düsseldorfer Altstadt – Stichwort: Längste Theke der Welt – eine geballte Kulturinitiative entgegenhalten. Man setzte zunächst auf die reiche lokale Klassik- und Jazz-Szene, auf Neue Musik (es gab sogar einen Wettbewerb!), auf ungewöhnliche Spielstätten und experimentelle Musiktheater-Formate.
Lange bevor die Ruhrtriennale spartenübergreifende Kreationen in umgenutzten Industriehallen zum künstlerischen Credo erhob, bespielte der „Altstadtherbst“ bereits unterirdische Tunnel, Baustellen und Hallen, aber auch Galerie-Räume und Kirchen, versteckte Perlen in der Düsseldorfer Altstadt, mit großen und kleinen Formaten. Die Idee zündete und besetzte offenbar eine Lücke. Von Anbeginn formierte sich ein Publikum, zunächst sicher auch angetan vom improvisierten Charme des Projekts, aber auch angezogen von den gut vernetzten Machern: Christiane Oxenfort und Andreas Dahmen, beide Profis an der klassischen Flöte brachten Branchenkenntnis und lokale Wurzeln mit und sind bis heute für das künstlerische Programm und Profil des Festivals zuständig.
In den 33 Jahren seines Bestehens wuchs das Festival stetig und heißt inzwischen längst „Düsseldorf Festival!“. Dieses Jahr findet es vom 6. bis 25. September statt, und auch 2023 steht wie in den Vorjahren das eigens errichtete temporäre Theaterzelt auf dem Burgplatz im Zentrum der Ereignisse. Dort finden die großen, publikumsträchtigen Veranstaltungen statt, die überwiegend handverlesene Produktionen des Neuen Zirkus und Avantgarde-Tanz bieten, unter anderem mit dem britischen Tanz-Shooting-Star Botis Seva und seiner Formation „Far from the norm“. Im Zelt gehen aber auch die Leseperformance mit Matthias Brandt und seinem kongenialen Klavierpartner Jens Thomas über die Bühne und ein Konzert der Saxofon-Queen Nubya Garcia. In der Lounge der Theaterbar gibt es eine beliebte Jazz-Reihe, ansonsten werden die unterschiedlichsten, oft auch wechselnden Spielstätten bespielt. Darunter nach wie vor Kirchen, Open-Air-Bühnen und auch Foyers von Banken.
Internationale Gastspiel-Ensembles mischen sich selbstverständlich mit lokaler Musik- und Theaterszene, Düsseldorfer Kantoren und Chöre wetteifern mit Weltklasse-Formationen wie der britischen a-cappella-Gruppe Voces8, das experimentelle Theaterkollektiv Pièrre.Vers befragt in der installativen Theaterarbeit „Dunkeldorf“ die Landeshauptstadt nach ihrer braunen Vergangenheit und deren Spuren bis in die Gegenwart. In der Johanneskirche setzt Cembalistin Elina Albach mit dem Projekt „Vespers & Dreams“ Alte Musik in gänzlich neue Kontexte.
Man könnte meinen, dass ein derart breit aufgestellter Spielplan viele unterschiedlichen Interessen bedient und sein jeweiliges Zielpublikum anspricht. Das mag zu Teilen auch so zutreffen. Das Besondere an diesem mit seinem Publikum gewachsenen Festival ist aber genau das, was sich andernorts viele Macher wünschen: Im Theaterzelt sieht man bei Avantgarde-Tanz-Vorstellungen mitunter auch rauer Machart viele Gesichter, die niemals das Opernhaus für eine Tanz-Premiere besuchen würden. Und beim Konzert des Ensembles Reflector, das mit „FUEL“ eine geräuschhaft-wilde „Globalisierungs-Suite“ verspricht, sieht man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mehr und vor allem völlig andere Gesichter als in den wenigen verbliebenen Neue-Musik-Konzerten, die in Düsseldorf noch veranstaltet werden. Da herrscht in der Regel die staubige Stimmung der Nerds und „üblichen Verdächtigen“.
„Geht doch!“, könnte man sagen? Geht eben nicht so einfach, denn das Rezept des Düsseldorf Festival ist kaum kopierfähig. Weil es eben nicht am Reißbrett und ohne Dramaturgen-Geschwurbel und Marketing-Konzept geplant wurde und wird. Sondern gewachsen ist. Und das gewachsene Publikum, das von Anfang an mit barrierefreier, rheinisch-hemdsärmeliger Herzlichkeit empfangen wurde, „kauft“ einfach blind, weil es vertraut und nicht überredet werden muss.
Am Mittwoch, 6. September geht es los mit der Produktion „Knitting Peace“ des für den Neuen Zirkus stilbildenden schwedischen Ensembles Cirkus Cirkör, das verspielte Akrobatik mit Friedensbotschaft zeigt. Tags darauf gibt’s ein Konzert mit Werken von Gabriel Fauré und Francis Poulenc in der Andreaskirche, das an den legendären Kantor Ulrich Brall erinnert, der ein echtes rheinisches Urgestein und schräges Original war.
Regine Müller
Fotos: Julien Sayegh, Pilvax, Steven Haberland, Gregory Rubinstein, Christoph Püschner/Zeitenspiegel


26. August — 01. September 2023

„Aus einem Totenhaus“

Requiem und Auferstehung
Ein Gefängnis ist ein Gefängnis. An jedem Ort der Welt. Zu allen Zeiten. Mögen auch die Haftbedingungen unterschiedlich sein, der Alltag ist trist, hier geht es um Schuld und (vielleicht) Sühne, manchmal auch um Unschuld, um Unterdrücker und Unterdrückte. Ein Ort, an dem der Mensch zum Menschen wird, aber eben auch zum Unmenschen, zum tätowierten Tier. Ein Platz, wo unser Rassenverhalten ziemlich unverstellt zum Ausdruck kommt, wo man sich kaum verstecken kann, auf sich selbst zurückgeworfen ist. Solches als Opernthema, das geht kaum radikaler, frauenloser, weniger klischeehaft. Und doch ereignet sich auch an solchem Ort Hoffnung und Sehnsucht, Liebe gar, Verzweiflung und Trauer, die großen emotionalen Momente der Oper eben.
Insofern war es richtig und fast zwangsläufig, dass Leoš Janáček sich nach seinen mährischen Dorf-, Frauen- und Fuchsgeschichten, die doch nur Parabeln sind für Schicksale (so hieß schon seine vierte von neun Opern) und die Natur als solche, in seinem letzten, 1930 in Brünn uraufgeführten Musiktheater „Aus einem Totenhaus“ nach Dostojewskis Prosaarbeit von 1862 mit dem Menschen und Unmenschen, dem Mann also beschäftigte. Denn auch hier, im kalten, miesen Gulag, mit seinen nicht sonderlich sympathisch aus der Masse heraustretenden, aber eben doch schuldig gewordenen Insassen und Angestellten, zeugt seine faszinierend ruhelose, dann wieder lethargische Partitur von der archaisch-utopischen Einheit der Elemente: Musik-Sprache als Sprachmusik.
„Ein Totenhaus“, dafür haben sich auch immer wieder große Regisseure interessiert: Klaus Michael Grüber hat es 1991 mit Claudio Abbado herausgebraucht, 2005 Volker Schlöndorff an der Deutschen Oper Berlin, 2007 Patrice Chéreau mit Pierre Boulez in Wien. 2011 kam es unter Peter Konwitschny und Ingo Metzmacher, in einen Banker-Turm verlegt in Zürich heraus, 2018 inszenierten es Frank Castorf an der Bayerischen Staatsoper und Krzystof Warlikowski am Royal Opera House Covent Garden.
Bei dem seit 2008 alle zwei Jahre an seinem Lebens- und Sterbeort Brünn abgehaltenen Janáček-Festival gab es 2022 das „Totenhaus“ in einer besonderen Variante: auf Anregung von Jakub Hrůša, des in Brünn geborenen, bis 2026 bei den Bamberger Symphonikern als Chef und ab 2025 an der Royal Opera Covent Garden als Musikdirektor engagierten, gegenwärtig bedeutendsten tschechischen Dirigenten spielte man nicht nur den 90-minütigen Dreiakter, sondern ergänzte ihn mit der zwei Jahre vor dem Totenhaus komponierten Glagolitischen Messe.
So kommen nicht nur spät, aber doch noch, Frauenstimmen in Fülle ins Musikspiel, aus dem Requiem wird noch eine Art Auferstehung, man kann die Depression im Gefängnis plus diviner Erlösung auch als das Umkippen ins Oratorium verstehen, so wie – „Gott, welch ein Augenblick – sich in Beethovens „Fidelio“ das private Gattenrettungsdrama im Gefängnis zum allzu menschlichen Befreiungsoratorium wandelt.
In den letzten Jahren allerdings ist Janáčeks bitterer Opern-Schwanengesang meist hyperrealistisch und depressiv zwischen Gulag und fiesem US-Knast visualisiert worden. Das wird jetzt in Bochum im Rahmen der Ruhrtriennale noch einmal auf die Spitze getrieben. In deren gewaltigen Dimensionen will Starregisseur Dmitri Tcherniakov (der als ausgebildeter Architekt auch immer sein eigener Bühnenbildner ist) ab 31. August nun in einer riesigen, begehbaren Bühneninstallation die schützende Wand zwischen Künstlern und Publikum auflösen: Tcherniakov, der bereits auch mit großem Erfolg „Jenufa“ und „Die Sache Makropoulos“ in Zürich herausgebracht hat, lässt uns alle als Gefängnisinsassen durch die Weite der Halle irren, keiner darf sitzen, auch wir Zuschauer werden Getriebene sein. Wir bewohnen eine erbarmungslose Gefängniswelt, sind unentrinnbar mitverhaftet mit all den „Schicksalslosen“, die hier eine Existenz als lebendige Tote fristen. Mit ihnen bewegen wir uns durch einen von würdelosen Raufereien und Saufereien gezeichneten Alltag.
Uns, seinen Mitgefangenen, schildert Luka aus nächster Nähe, wie er aus Rache für dessen Willkür den Major erstach. Uns erzählt Skuratov, wie er den reicheren Rivalen um die geliebte Luisa erschoss. Šiškov erzählt uns, wie er aus Eifersucht seiner unschuldigen Braut Akulina die Kehle durchschnitt. Interessiert uns ihr Leid, ihre Wut, ihre Reue? Oder kehren wir uns ab, suchen Distanz zu diesen glücklosen Gescheiterten, beobachten sie aus der Ferne? Wir sind unter ihnen nachts, wenn sie weinen, sind mit ihnen im Lazarett, wenn sie im Fieber sprechen, wenn sie sterben. Wir schauen uns sogar ihre frivolen Theateraufführungen an, um den zermürbenden Lagertrott zu unterbrechen. Fühlen wir mit ihnen?
Wenn man das Geschehen lieber aus der Distanz verfolgen möchte, empfiehlt sich freilich beim Ticketkauf, Plätze in den Bereichen Seitenhof, Galerie 1 oder Galerie 2 zu wählen. Bei Höhenangst empfehlen sich hingegen die Publikumsbereiche Gefängnishof oder Seitenhof. Während der Vorstellung kommt es zu Kampfszenen zwischen Darstellern und professionellen Stuntkünstlern. Für Personen unter 14 Jahren wird der Besuch nicht empfohlen.
Dirigieren wird Dennis Russell Davies, als Sänger sind dabei: Johan Reuter (Alexandr Petrovič Gorjančikov), Bekhzod Davronov (Aljeja, ein junger Tatar), Leigh Melrose (Šiškov), Stephan Rügamer (Luka (Filka Morozov)), John Daszak (Skuratov), Alexey Dolgov (Šapkin ) und – in einem Cameo-Auftritt – Tenorlegende Neil Shicoff (Der Alte). Es spielen die Bochumer Symphoniker, es singt der Chor der Janáček-Oper des Nationaltheaters Brno.
Manuel Brug
Premiere: 31. August. Weitere Termine 2., 3., 6., 8. und 9. September.
Fotos: Volker Beushausen/Ruhrtriennale, Sascha Kreklau, Reinhard Winkler


19. — 25. August 2023

Lucerne Festival

Von Anne-Sophie Mutter bis Dee Dee Bridgewater
Bereits 2012 debütierte Daniil Trifonov beim Lucerne Festival, damals hatte er erst im Vorjahr mit der Arthur-Rubinstein- und der Tschaikowsky-Competition zwei der wichtigsten Wettbewerbe überhaupt gewonnen und rückte gerade eben in den Rang eines Weltstars auf. Inzwischen ist er längst unangefochten und eine Klasse für sich. In Luzern war er seit 2012 immer wieder zu Gast, in diesem Sommer ist er gar „artiste étoile“ und nicht nur mit den großen Brechern des Repertoires, sondern auch mit Kammermusik zu erleben.
Eine Woche nach Festivalbeginn interpretiert er mit Solistinnen und Solisten des Lucerne Festival Orchestra zwei Gipfelwerke der Kammermusik: Schuberts „Forellenquintett“ und Brahms' Klavierquintett in f-moll. Immer wieder überrascht, wie weit weg Trifonov von jedem Star-Gehabe ist, jede Form glanzvoller Repräsentation scheint ihm regelrecht zuwider zu sein. Nicht umsonst verkriecht er sich mehr und mehr hinter einer langen Haarmatte und einem gewaltigen Bart. Unauffällig mischt er sich im großen Saal des KKL unter die für jedes der beiden Werke anders zusammengestellten Solisten.
Auf dem Programm steht zu Beginn – anders als im gedruckten Heft – zuerst Schuberts „Forellenquintett“, das Trifonov mit leuchtend leichtem Ton spielt, perlend, fast beiläufig. Nach der Pause aber holt er weit aus und verbeißt sich geradezu in Brahms' bohrendes Insistieren und die verzweifelte Leidenschaft des f-moll-Quintetts. Die Instrumentalisten, darunter Cellist Wolfgang Hagen vom Hagen Quartett sind ebenbürtige Partner und treiben das Geschehen mit Verve voran. Trifonov wird in Luzern nochmit einem Solorecital und Schumanns Klavierkonzert zu erleben sein, begleitet vom Mahler Chamber Orchestra unter Daniel Harding.
Seit dem 8. August läuft die Sommerausgabe des Festivals, das seit mehr als 75 Jahren berühmte Orchester, große Dirigenten und Solisten nach Luzern holt, am 10. September endet sie mit einem Konzert der Münchner Philharmoniker. Passend zum Festivalmotto „Paradies“ ist auf dem Europaplatz ein „Paradiesgarten“ angelegt, für den 20.000 Liter Erde und rund 500 Pflanzen vor das KKL transportiert wurden, was Jean Nouvels sonst eher kühler Architektur einen ganz neuen Twist gibt.
Bei den Gast-Orchestern finden sich in diesem Jahr unter anderem die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko, die Staatskapelle Dresden unter Christian Thielemann, das West-Eastern Divan Orchestra unter Daniel Barenboim, Oslo Philharmonic unter Klaus Mäkelä, das Royal Concertgebouw Orchestra unter Iván Fischer, die Wiener Philharmoniker unter Jakub Hrůša und das Boston Symphony Orchestra unter Andris Nelsons; von der Alten Musik kommen Il Giardino Armonico mit Giovanni Antonini und Les Arts Florissants unter William Christie. Bei den Solisten sind viele Stammgäste vertreten, wie Anne-Sophie Mutter, Yuja Wang, Igor Levit und András Schiff. Von allem nur das Beste.
Das Festival ist gewachsen und hat inzwischen einen Zweig mit Neuer Musik und ein Klavierfestival ausgekoppelt. Vor 25 Jahren eröffnete das KKL direkt am Seeufer, und vor 20 Jahren belebten Claudio Abbado und der heutige Noch-Intendant Michael Haefliger das Luzerner Festspielorchester neu, das auf Arturo Toscanini zurückgeht, der im Jahr 1938 mit dem legendären „Concert de Gala“ bedeutende Musiker zu einem Eliteklangkörper vereinte. Im August 2003 präsentierte sich das Lucerne Festival Orchestra erstmals der Öffentlichkeit, seit 2016 ist mit Riccardo Chailly erneut ein Italiener Chefdirigent des Klangkörpers.
Die in diesem Jahr mit ihm vorgesehen Konzerte musste Riccardo Chailly leider krankheitsbedingt absagen, für das Eröffnungskonzert mit Mahlers Dritter sprang kurzfristig Paavo Järvi ein und feierte einen Triumph, wenn man den Kritiken glauben darf. Zürichs Musikdirektor steuerte das Lucerne Festival Orchestra, die Damen vom Chor des Bayerischen Rundfunks und der Luzerner Kantorei souverän durch Mahlers gewaltiges Werk, Solistin war die Altistin Wiebke Lehmkuhl. An den drei Tagen zuvor stimmten drei Konzerte der Sparte „Music for Future“ auf das Festival ein, kubanische Klänge gab es da zu hören, aber auch Jazz mit Dee Dee Bridgewater und Daniel Schnyder.
Das 20-jährige Jubiläum des Festival-Orchesters wird gefeiert mit vier Sinfonie- und zwei Kammermusik-Konzerten, das Luzerner stattkino zeigt darüber hinaus sieben historische Konzertmitschnitte mit Claudio Abbado und Riccardo Chailly aus den vergangenen 20 Jahren.
Regine Müller
Fotos: Priska Ketterer


12. — 18. August 2023

The Greek Passion

Eine moderne Passion
Flüchtlingsströme ziehen vorbei. Schon wieder. Immer noch. Bohuslav Martinůs außenseiterische „Griechische Passion“ in der Felsenreitschule – und keiner sage, die Salzburger Festspiele schotten als amüsierfreudiges Touristenspektakel ihren Willen zur Kunst von der Wirklichkeit ab.
Wobei sie sich mit dem Martinů-Stück eine besonders selten gespielte Oper ausgesucht haben. 1957 wurde die erste Fassung, die erst 1999 in Bregenz in der Rekonstruktion von Ales Brezina szenisch uraufgeführt wurde, von der bestellenden Londoner Covent Garden Opera abgelehnt; eine komplett umgearbeitete Version ist erst nach dem Tod des Komponisten 1961 von Paul Sacher in Zürich gespielt worden. Auf Deutsch. In Bregenz – im originalen Englisch – hörte und sah man ein höchst querständiges Stück Musiktheater, engagiert, könnerisch und packend, aber auch unfertig, grob und redundant wirkend. Tugenden und Fehler, von denen die gelungene szenische Umsetzung durch David Pountney seinen Bühnenbildner Stefanos Lazarides und den Dirigenten Ulf Schirmer nicht ablenkte.
Ihre Entscheidung für die Zürcher Fassung für Salzburg – ebenfalls rückübersetzt ins Englische – begründen der Dirigent Maxime Pascal und der Regisseur Simon Stone damit, dass diese im Vergleich zur Londoner Version intuitiver, spontaner und geradliniger wirke.
Auf Nikos Kazantzakis' gleichnamigen Roman beruhend, der wie in „Alexis Sorbas“ vor allem den oft unmenschlichen Atavismus griechischer Dorfgemeinschaften anprangert, schildert Martinů ein ritualisiertes, unabwendbares Geschehen. Der machtbewusste Dorfpfarrer vergibt die Rollen für das nächstjährige Passionsspiel. Die Auserwählten setzen sich mit ihren Charakteren auseinander, Jesus, Johannes, Petrus, Maria Magdalena und Judas nehmen schleichend Besitz von ihren naiven Spielern.
Parallel dazu erscheint, ebenfalls von ihrem Popen angeführt, eine von den Türken vertriebene, ebenfalls griechische Dorfgemeinschaft, die sich – wenig willkommen geheißen – außerhalb auf einem Berg einquartiert. Als der Jesus-Darsteller Manolios zu sehr mit diesen, den Einflussbereich des Pfarrers bedrohenden Elementen sympathisiert, lässt der Kirchenobere ihn steinigen. Am Weihnachtsabend ziehen die Flüchtlinge weiter.
Diesen schnell durchschauten Vorwurf um den zentralen Begriff „Nächstenliebe“ verbrämt der Emigrant Bohuslav Martinů mit einer zwischen den Zeiten und Stilen stehenden, mal tonalen, mal atonalen Musik. Die oft hart geschnittenen, gegeneinander montierten Szenen haben filmisches Tempo, dann aber wieder ziehen sie sich gleichförmig hin. Ein fragmentarisches, hörspielhaftes, seltsam ungleichgewichtiges Werk, das seine anrührende Aussage nicht immer in den dramatischen Griff bekommt. Frauen spielen kaum eine Rolle. Eine moderne Passion; manchmal eher als folkloristisches Getümmel zwischen der kantigen Tragödie, die die Partitur harsch meißelt.
Aber trotzdem „ein extrem wichtiges musikalisches Meisterwerk“, wie Salzburgs Intendant Markus Hinterhäuser sagt. Für Simon Stone ist es hier die dritte Inszenierung nach Aribert Reimanns „Lear“ und Luigi Cherubinis „Médée“. Am Pult der Wiener Philharmoniker debütiert der Franzose Maxime Pascal, Gewinner des Young Conductor‘s Award 2014, der hier auch schon Rihms „Jakob Lenz“ und Arthur Honeggers „Jeanne d’Arc au bûcher“ erfolgreich konzertant leitete.
„Meine erste Begegnung mit Martinů hatte ich während meiner Studienzeit am Konservatorium in Paris“, erzählt Maxime Pascal. „Nach und nach habe ich seine symphonische Musik und seinen Opern und dabei auch einige Parallelen zum französischen impressionistischen Repertoire kennengelernt. Dieses Stück hat eine sehr brutale Handlung, aber es ist gleichzeitig von einer mediterranen Leidenschaft, das flirrt geradezu in der Musik. Es gibt auch nächtliche, poetische Szenen. Die atmen eine Dualität zwischen Traum und Wirklichkeit. Je mehr wir in diese Oper eindringen, desto interessanter wird es, mitzubekommen, was es für die Dorfbewohner bedeutet, zu Ostern die Passionsfiguren zu spielen.
Religion und Politik vermischen sich“, so Pascal weiter, „und es endet in Krieg und Katastrophe. Das ist ganz realistisch, auf der Bühne und auch in der Musik, aber es hat eben auch etwas Transzendentales, der Raum ist miteinbezogen. Eine Chorgruppe verharrt, die andere, der Flüchtlinge aus der Türkei bewegt sich, ist immer im Exil, mit Märschen, Echos, Verfremdungen. Manolis, der Christus spielt, wird auch Christus. Er macht eine Metamorphose durch, äußere und innere Perspektiven mischen sich: Diese Oper erzählt sehr kritisch auch von uns und unserer Welt.“
Diesen Sommer dirigiert Maxime Pascal sowohl in Aix-en-Provence wie in Salzburg zwei wichtige szenische Premieren. In Frankreich war das Brechts/Weills „Dreigroschenoper“ in einer glamourös-flotten Umsetzung durch den Berliner Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier. „Die ,Dreigroschenoper‘ hat so viele Beziehungen zu Berg, dessen ,Lulu‘ ich erst kürzlich dirigiert haben, zu Weill und Martinů. Das ist alles die gleiche, crazy Zeit, jedes Werk ist ein Stück dieser Epoche.“
Auch die „Dreigroschenoper“ ist eine Passion mit einem metaphysischen Ende, findet Pascal: „Bei Weill wie bei Martinů spüren wir die irrationale Angst der Masse. In der ,Griechischen Passion‘ mischen sich Passion und antike Melodien, orthodoxe Metrik, aber auch so manches von Olivier Messiaen.“
Die Premiere findet am 13. August in der Felsenreitschule statt. Es singen Gábor Bretz als Priester Grigoris, Charles Workman als Yannakos, Sebastian Kohlhepp als Manolios, Sara Jakubiak als die Witwe Katerina und Christina Gansch als Lenio. Drei weitere Vorstellungen von „The Greek Passion“ folgen bis 27. August.
Manuel Brug
Fotos:SF/Monika Rittershaus


05. — 11. August 2023

Darmstädter Ferienkurse

„Wir brauchen einen neuen Austausch“
In der Halle der Centralstation im Herzen von Darmstadt stehen ein E-Piano und zwei Pauken eng beieinander. An der aufwändigen Lichtregie wird bei der Probe noch gebastelt, dann kommen zwei Performer auf die Bühne, gehen an die Instrumente, stehen Rücken an Rücken und legen los. Es klingt jazzig, improvisiert. Eine Performerin tritt auf, geht künstlich abgezirkelt auf den Zehenspitzen, rückt an den Noten des Paukers und zieht schließlich die Pauke weg. Sie stakst stets in geraden Linien und rechten Winkeln. Wiederholt die Prozedur mit dem E-Piano. Dann kommt eine Hornistin an den Bühnenrand, traktiert ihr verstärktes Instrument mit gepresster Luft, es entsteht kein Ton, bloß ein gepresstes Geräusch.
„Growing Sideways – Choreografische Kompositionen in rückfälligen Verhaltensmustern“ heißt die Produktion aus Wien von Brigitte Wilfing und Jorge Sánchez-Chiong, die am Sonntag zur Aufführung kommen wird. Sie ist Teil der zweiwöchigen Darmstädter Ferienkurse, die weit mehr sind als nur ein Festival für Neue Musik, sondern zugleich eine internationale Sommerakademie anbieten und sich als Diskursplattform und künstlerisches Labor verstehen. Ein dichtes Programm aus Konzerten, Kursen, Workshops, Lectures, Diskussionen, Think Tanks und Ateliers, an dem etwa 60 Dozentinnen und Dozenten und viele weitere Gäste mitwirken. Rund 400 aktive Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus etwa 50 Nationen werden erwartet.
Ein gewaltiges Unternehmen mit erlauchter Geschichte. Denn die Ferienkurse fanden erstmals bereits 1946 statt und waren nach dem Zweiten Weltkrieg das erste funktionierende Forum für zeitgenössische Musik in Deutschland. Das who’s who der Avantgarde-Komponisten und Theorie-Größen gab sich in Darmstadt die Klinke in die Hand: Theodor W. Adorno, Heinz-Klaus Metzer, Carl Dahlhaus und Rudolf Stephan prägten den Theorie-Diskurs, Komponisten wie Edgar Varèse, Ernst Krenek, John Cage und Olivier Messiaen sorgte für internationales Flair und Weltgeltung.
Mit anderen Worten: Die Latte liegt hoch in Darmstadt. Wobei einmal mehr verwundert, dass es wieder keine Metropole ist, die zum Zentrum des Neuen in der Musik wird – ähnlich wie Donaueschingen und Witten. Vater dieser Provinz-Idee für die Konzentration auf das Neue ist womöglich letztlich Richard Wagner, der ja bekanntlich bewusst in die Provinz nach Bayreuth ging, um den Ablenkungen und dem gesellschaftlichen Glamour der Metropolen zu entfliehen.
Darmstadt ist kein glamouröser Ort, fürwahr. Derzeit ist die Innenstadt eine einzige Baustelle. Das Festivalzentrum befindet sich in der Lichtenberg-Schule, ein nüchterner Zweckbau der 1970er Jahre in einer ruhigen Wohngegend, gespielt wird dort in einer Turnhalle, die restlichen Spielorte sind über die ganze Stadt verteilt.
Seit 2010 verantwortet Thomas Schäfer das künstlerische Programm und Management der Ferienkurse. Deren Alleinstellungsmerkmal sieht er in der einmaligen Konstruktion: „Es liegt in der Verbindung von Akademie, Festival und Theorieraum, Darmstadt war immer ganz stark ein Diskursort, die theoretische Diskussion ist von hier aus angeschoben worden. Ich würde diese drei Säulen nicht einzeln betrachten, denn das hier ist ein Gebilde, bei dem sich diese Teile gegenseitig befeuern.“
Als treibende Kraft beschreibt er vor allem den Willen zur Veränderung. „Wir wollen aktuelle Diskussionen der Neuen Musik und der Gesellschaft aufgreifen. Wir profitieren dabei stark von Impulsen, die aus der Szene kommen. Viel Input kommt auch aus der Akademie: 400 Leute aus 50 Nationen, die bringen viel mit!“
Mehr als 60 Lehrende treffen auf etwa 400 Akademisten, manche Instrumental- und Workshops sind nur über ein Bewerbungsverfahren zu buchen, besonders begehrt sind die Plätze für die Kompositionskurse und Workshops: „Die Plätze sind innerhalb weniger Stunden vergeben, die Leute fragen schon Monate vorher an. Und dann stellen sie sich in China und den USA den Wecker und sitzen pünktlich am Rechner.“
Die kritische Masse ist bei 400 Teilnehmern insgesamt erreicht, der Schlüssel liegt bei etwa 50:50, also 50 Prozent sind Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, 50 Prozent Komponistinnen und Komponisten. Jede erdenkliche Lehrsituation ist anzutreffen: 1:1-Unterricht, Gruppen, Workshops, Lectures.
Das Programm der Konzerte der Akademisten ergibt sich im Detail erst im Laufe der gemeinsamen Arbeit. Feststehen aber natürlich die Konzerte mit den Gast-Ensembles. Diesmal ein who’s who der aktuellen Spitzenensemble der Neuen Musik. Das Eröffnungskonzert am Samstag bestreitet das Klangforum Wien mit Georges Aperghis‘ „Situations“, das Vorkonzert das Prague Music Perfomance Orchestra mit Werken von Anthony Braxton – der in diesem Jahr auch als Dozent zugegen ist. Weitere Gäste sind unter anderem das Arditti Quartet, das Ensemble Modern, Klaus Lang, das Ictus Ensemble und das hr-Sinfonieorchester.
Das Publikum besteht zum Teil aus den üblichen Verdächtigen der Szene, Menschen aus Darmstadt und dem Großraum Frankfurt, so Schäfer. „Darüber hinaus haben wir eine sehr luxuriöse Situation, denn ein Teil sind die Kursteilnehmer, die gehen in jedes Konzert! Das ist für die Ensembles eine traumhafte Situation, denn es entsteht eine besonders schöne Energie. Und dieses Publikum ist sehr jung, zwischen 20 und 30 Jahren.“
Als inoffizielles Motto bezeichnet Schäfer das Nachdenken über die Frage, wie Zusammenarbeit heute aussieht. „Wir brauchen einen neuen Austausch auf musikalischer Ebene. Das betrifft auch ein Generationengespräch, Anthony Braxton ist hier, immerhin schon 78 Jahre alt und Helmut Lachenmann, aber eben auch ganz junge Komponisten. Das ist genau der Austausch, den ich möchte.“
Regine Müller
Fotos: Kristof Lemp


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