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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

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am 27.04.2024



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15. — 21. Juli 2023

Händel: Semele

„Kein Oratorium, aber eine obszöne Oper“
„Opera after the manner of an Oratorio“ nannte Georg Friedrich Händel selbst seinen seltsamen, aber musikalisch köstlichen Zwitter namens „Semele“ nach einem älteren, niemals gespielten, aber ziemlich guten Libretto von William Congreve. Neben „Hercules“ ist es dessen zweites dramatisches Oratorium auf ein weltliches Thema, ein ziemlich deftiges zudem – aus der griechischen Mythologie, dessen Verwandlungsthema schon Ovid in seinen „Metamorphosen“ gestaltete. Die Uraufführung fand am 10. Februar 1744 im Theatre Royal in Covent Garden statt.
Es geht darin um die sterbliche Semele, die den ungeliebten Athamas heiraten soll, aber ein heimliches Techtelmechtel mit Jupiter hat. Sie beschwört im Tempel, den Götterboss, ihr zu helfen. In Gestalt eines Adlers raubt er sie, um „endless pleasure“ zu erleben. Semeles Swchester Ino kann sich hingegen durchaus für Athamas erwärmen. Jupiters ewig eifersüchtige Gattin Juno erfährt durch die Göttin Iris, dass Semele in einem von Vulkan erbauten und von zwei Drachen bewachten Palast lebt. Sie beschließt, mithilfe von Schlafgott Somnus Semele zu verderben. Semele hingegen fordert von ihrem Lover nun auch noch Unsterblichkeit. Juno nähert sich Semele in der Gestalt Inos, überreicht ihr einen Spiegel und überzeugt sie davon, dass sie unsterblich wird, wenn sich Jupiter ihr in seiner wahren Gestalt zeigt. Jupiter versucht, sie davon abzubringen, aber sie besteht darauf. Juno erfreut sich des Erfolgs ihrer Rache, und Semele erkennt zu spät ihren Fehler: In den machtvoll göttlichen Blitzstrahlen von Jupiters Macht verbrennt sie. Ino darf Athamas heiraten. Apollon erscheint und verkündet, dass Semeles Asche ein Phönix entstiegen ist, der dazu bestimmt ist, als Gott unter den Göttern zu wohnen. Ein Schlusschor huldigt Bacchus ihrem Sohn mit Jupiter.
Händel führte Semele trotz im Libretto vorhandener Szenenanweisungen immer konzertant auf. Trotzdem hat man sie oft als Oper bezeichnet, womit sie, nach Henry Purcells „Dido und Aeneas“, eine der ersten echten englischsprachigen Opern wäre. Im 20. Jahrhundert wurde sie mehrmals erfolgreich szenisch aufgeführt. Weitgereist war eine Inszenierung von Robert Carsen, die bei den Windsors spielte und in der auch Cecila Bartoli in der Titelrolle glänzte.
„Kein Oratorium, aber eine obszöne Oper“, zürnte vor 300 Jahren ein Zeitgenosse. Nach vier Aufführungen wurde diese, von einem der vielen, ziemlich irdischen Jupiter-Seitensprünge erzählende Pikanterie schon wieder abgesetzt und vergessen. Und ja, nein, „Semele“ ist kein moralisches Werk. Obwohl die fiese, ewig eifersüchtige Juno, wie auch Fricka, den Sieg über die scheinbare Wahrung der ehelichen Treue davonträgt. Das Biest Semele muss sterben, schlimmer noch: verbrennen. Durch den ungezügelten Blitz Jupiters in seiner wahren Gestalt. Das will man sehen und hören. Schließlich komponierte Händel selten so sinnlich, so farbenreich. Allein Semele darf sich in neun Arien verströmen. Es gibt ein herrliches Quartett und wunderbare Chöre. Da schnalzt man mit der Zunge.
Nach einigen Jahren Händel-Abstinenz bekommen die seit der Peter-Jonas-Intendanz an der Bayerischen Staatsoper danach dürstende Münchner Händel-Gemeinde also nun neues Futter. Das Oratorium wird am 15. Juli als zweite Festspielpremiere (und in Koproduktion mit der New Yorker Metropolitan Opera) vom Händel-erfahrenen Claus Guth im Prinzregententheater inszeniert. Gianluca Capuano steht am Pult des auch schon 500-jährigen Staatsorchesters. Die Bühne gestaltet Michael Levine, die Kostüme Gesine Völlm.
Und ein luxuriöser Cast lässt dem Vokalgenießer bereits das Wasser im Kehlkopf zusammenlaufen: Semele ist Brenda Rae, Jupiter der versatile Michael Spyres, Apollo Jonas Hacker, Athamas der golden countertenor boy Jakub Józef Orliński. Als Juno lässt sich Emily D'Angelo vernehmen, als Ino Nadezhda Karyazina und als Iris Jessica Niles. Der fesche Philippe Sly gibt Cadmus/Somnus.
Manuel Brug
Fotos: Monika Rittershaus


08. — 14. Juli 2023

„Fliessen“

Premiere für das Kammermusikfestival „Fliessen“
Sommerzeit ist Festival-Zeit! Die kulturelle Grundversorgung vor Ort ist in der Sommerpause, das Wetter lockt heraus aus den Städten zu großen und kleinen Spielorten. Auch die pompösen Festival-Tanker wie Bayreuth oder Salzburg – vom malerischen Aix-en-Provence ganz zu schweigen – punkten mit ihrer im ersten Fall bewusst abgelegenen, im zweiten Fall landschaftlich pittoresken Lage, barocker Pracht und gesellschaftlichem Glamour. Aber die drangvolle Enge der Traditionsfestivals kann auch nerven, die immergleichen Rituale ermüden. Daher sind für die erhellenden, bezaubernden und Ohren öffnenden Sommererlebnisse eher die kleineren, intimeren Festivals zuständig, am besten solche für kostbare Kammermusik.
In deren erlauchte Schar reiht sich nun erstmals ein Festival ein, das einen bislang noch eher unterversorgten Landstrich im Osten der Republik erschließt: Das Internationale Kammermusikfestival „Fliessen“ bespielt vom 8. bis 15. Juli handverlesene Orte im Spreewald und in der Niederlausitz. Die künstlerische Leitung teilen sich die Cellistin Marie-Elisabeth Hecker und der Pianist Martin Helmchen, auf ihre Einladung hin treffen sich Spitzenkräfte auf dem Land, um eine Woche lang gemeinsam zu proben und zu konzertieren. Mit im Boot sind auffallend viele Stammgäste des 1998 von dem im letzten Jahr so trostlos früh verstorbenen Pianisten Lars Vogt gegründeten Festival „Spannungen“ in der Eifel, man darf erwarten, dass der wunderbare Geist jenes Festivals nun auch bei „Fliessen“ wehen wird. Unter anderem treffen sich hier Christian Tetzlaff, Antje Weithaas, Julian Steckel, Tobias Feldmann, Alexander Melnikov, Harriet Krijgh und noch einige mehr.
Die Künstlerinnen und Künstler des Festivals proben während der Woche gemeinsam in der Drauschemühle in Bornsdorf bei Luckau und treten in immer wieder neuen Konstellationen an besonderen Orten in der touristisch noch nicht überlaufenen Region auf. Die Besetzungen reichen von Solo und Duo über Trio, Quartett und Quintett bis hin zum selten im normalen Konzertbetrieb anzutreffenden Oktett.
„Fliessen“ will aber über seine dramaturgisch gewitzt konzipierten Konzerte mit Ausnahme-Musikerinnen und Musikern hinaus noch mehr bieten: Als „Festival im Festival“ konzipiert und im Rahmen der „Brandenburgischen Sommerkonzerte“ produziert, bietet es Beiprogramme, die einen diskursiven Rahmen anbieten und klassische Musik nicht nur als kulinarisches Schmankerl in erhebender Umgebung verstanden wissen wollen: Neben Kirchenturmbesteigungen und Besichtigungen sind unter anderem Politiker, Autoren, Philosophen und Wissenschaftler geladen, über die großen Fragen der Zeit zu diskutieren. Ausgangspunkte der Beiprogramme sind dabei immer die Konzertorte von „Fliessen“: eine Scheune, ein Schloss, eine Glasbläsermanufaktur, eine Kirche und ein Konzertsaal, die jeweils für ein Themenfeld stehen. Also Mensch und Natur, Kunst und Besitz, Musik und Manufaktur, Spiritualität und Religion heute und bürgerschaftliches Engagement. Zudem sorgen offene Proben, Vorträge und Diskussionsrunden mit den Zuhörerinnen und Zuhörern für Kommunikation und betonen den Grundimpuls der Festivalmacher, Musik bewusst in den Kontext zu gesellschaftspolitischen und philosophischen Fragestellungen zu setzen.
Wenn man durchs Programm blättert, läuft einem das Wasser im Mund zusammen, so überraschend, neugierig machend und treffsicher sind die „Pakete“ konzipiert: Das gibt es zum Beispiel ein Schlosskonzert im Schloss Lübbenau im Spreewald unter dem Titel „Musik und kulturelle Besitzverhältnisse“, das Beiprogramm beginnt mit einer Kaffeetafel (überhaupt ist immer auch für das leibliche Wohl gesorgt), gefolgt von einer Kahnfahrt im Spreewald, einem Vortrag zur Frage „Wem gehört das kulturelle Erbe Brandenburgs?“, danach Vivaldis Sonate für Flöte und Fagott in a-moll, Mozarts Streichquartett C-Dur KV 515, Brahms' „Ungarische Tänze“ vierhändig und sein Klavierquartett Nr. 1 in g-moll.
Oder das Nachtkonzert in der imposanten gotischen Hallenkirche von Luckau „Vom Ende der Zeit“: Nach einem Block mit Bach-Solowerken für Geige, Cello und Klavier – ja, die „Chaconne“ ist auch dabei - folgt Olivier Messiaens endzeitliches „Quatuor pour la fin du temps“. Und wer mag, kann danach noch zu liturgischen Texten meditieren.
Übrigens: Der zum Rätseln anregende Name des Festivals verdankt sich einer Doppelbedeutung. Zum einen verweist er auf die für diese Landschaft so typischen „Fließe“, die den Spreewald wie ein Netz durchziehen. Und natürlich ist wie das Wasser auch die Musik immer ‚im Fluss‘.
Regine Müller
www.fliessenfestival.de
Fotos: Harald Hoffmann, Laura Schneider


01. — 07. Juli 2023

Festival d'Aix en Provence

Und schon wieder ist ein Jahr vorbei, die traditionelle Sommerfestspielsaison kann starten. Den Anfang der großen Opernereignisse macht – München spielt ja hauptsächlich die Edelware der Saison – das Festival in Aix-en-Provence. Wurde es lange angesehen als ein kulinarischer Hot Spot der Goldkehlen im Midi, so hat dort seit der Übernahme von Stéphane Lissner 1998 ein neuer Regiewind zu wehen begonnen. Und der setzte sich unter Bernard Foccroulle ebenso durch wie seit 2019 unter Pierre Audi.
Ja mehr noch, die Premierenfrequenz hat sich erhört. Sechs Novitäten in fünf Tagen waren und sind es in den Jahren 2022 und 2023! Dagegen sieht Salzburg, die Grande Festival-Dame, wo nur noch die alten, abgehangenen Männer zu regieren scheinen, viel müder und fader aus. Den Auftaktdirigenten teilt man sich allerdings: Der vielgefragte, junge Maxime Pascal mit seinem Ensemble Le balcon wird in Aix am 4. Juli die Eröffnungspremiere dirigieren, im August folgt dann in Salzburg „die Greek Passion“ von Bohuslav Martinu.
Im Midi wird er bei der „Opera de Quat’sous“ den Taktstock schwingen, die freilich ist nichts anderes als die Brecht/Weill'sche „Dreigroschenoper“. Die Sensation für die Deutschen dabei: Erstmals wird Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier eine, naja, wenigstens halbe Oper inszenieren, wenn auch mit den Schauspielkoryphäen der Comédie Française, die koproduziert. Und man spielt selbstverständlich unter dem blauschwarzen, samtweichen Nachthimmel zwischen Zikaden- und Schwalbenlauten im offenen Cour de l’Archêveché – dem Innenhof des erzbischöflichen Palastes.
Kontrastprogramm gibt's dann schon am 5. Juli: George Benjamin steht im kleinen, plüschigen Stadttheater Jeu de Paume am Pult seiner jüngsten Neukreation „Picture a Day like this“, zu der wiederum der Dramatiker Martin Crimp das Libretto geschrieben hat. Es spielt das Mahler Chamber Orchestra, sein 25-jähriges Jubiläum feiert.
So wird das Werk angekündigt: „Ein gewöhnlicher Tag, ein schreckliches Ereignis. Als ihr Kind stirbt, macht sich eine Frau auf die Suche nach dem Wunder, das sie wieder zum Leben erweckt. Alles, was sie tun muss, ist, innerhalb eines Tages einen wirklich glücklichen Menschen zu finden. Doch während jede Begegnung, so vielversprechend sie auch sein mag, in einer Enttäuschung endet, wendet sie sich schließlich an die geheimnisvolle Zabelle, Gastgeberin und Schöpferin eines wunderbaren Gartens.“
Elf Jahre nach dem weltweiten Erfolg von „Written on Skin“ wird auch dieses Werk wieder auf eine Tournee nach London, Köln, Neapel, Paris, Straßburg und Luxemburg gehen. Regie führen Daniel Jeanneteau und Marie-Christine Soma – mit einer Videoinstallation von Hicham Berrada. Unter den Sängern sind Marianne Crebassa und Anna Prohaska.
Es folgt am 6. Juli, Premiere hätte schon im ausgefallenen Pandemie-Sommer 2020 sein sollen, Mozarts „Così fan tutte“, denn eine Oper von ihm pro Sommer ist auch in Aix obligatorisch. Da man vor 75 Jahren, 1948, damit die Festpiele geboren hatte, passt es jetzt natürlich. Dmitri Tcherniakovs bewusst sehr reif gewähltes Sängersextett –
Agneta Eichenholz, Claudia Mahnke, Rainer Trost, Russell Braun, Georg Nigl, Nicole Chevalier – wird also noch älter sein, und auch Thomas Hengelbrock mit seinem Balthasar Neumann Chor und Ensemble bevorzugt ja bekanntlich die alten Instrumente. Man spielt wieder beim Bischof.
Am 7. Juli geht es hingegen in das eher sachliche Grand Théâtre de Provence, wo sich Simon Rattle und Simon McBurney Alban Bergs „Wozzeck“ widmen werden. Christian Gerhaher singt einmal mehr den Wozzeck, Malin Byström die Marie, der Tambourmajor ist Thomas Blondelle.
Für den 8. Juli ist schließlich ein Premierendoppel geplant: Als europäische Erstaufführung gibt es „The Faggots and their Friends between Revolution“, eine „Fantasie baroque“, schrill, kämpferisch und komisch, nach dem queeren Roman von Larry Mitchell und Ned Asta aus dem Jahr 1977. Neuerlich arbeiten dabei Philip Venables (Komposition) und Ted Huffman (Text und Regie) zusammen. Eine fantastische Parabel mit dem Wert eines politischen Manifests, eine radikale Vision der Entwicklung der Welt aus queerer Sicht: „Faggots“ zeichnet eine revolutionäre Gegenutopie für alle Unterdrückten, die einem atemlosen patriarchalen Modell zuwiderläuft – so hofft man. Spielstätte ist der Pavillon Noir.
Und abends geht es dann wieder mit dem Bus in die Mondlandschaft beim Flughafen in Vitriolles, wo Pierre Audi bereits für die letzte Aix-Ausgabe in einer verlassenen Popkonzert- wie Baseball-Arena eine abweisend-erratische Spielstätte entdeckt hatte. Diesmal wird dort mit seinem Orchestre de Paris der gehypte Dirigent Klaus Mäkelä die drei ikonischen Strawinsky-Ballette „Feuervogel“, „Petruschka“ und Sacre du Printemps“ leiten. Dazu werden freilich Filme von Rebecca Zlotowski, Bertrand Mandico und Evangelia Kranioti gezeigt. So soll das Ideal der Gesamtkunst, das diese Werke der Ballets Russes einst vermittelten, als Träumerei wiederzuentdecken sein: Drei Parabeln, die abwechselnd Kunst wie den Zustand von Mensch und Natur inszenieren, oder mit der Idee des Übermaßes kämpfen. So möchte Aix in seiner reichen Geschichte eine neue Seite aufschlagen und dabei eine privilegierte Verbindung zwischen Musik und Bild herstellen. Wir werden sehen.
Manuel Brug

Fotos: Christophe Raynaud de Lage, Jean Louis Fernandez


24. — 30. Juni 2023

Schostakowitsch-Tage Gohrisch

„Unerhört schöne Gegend“
Viele sommerliche Festivals punkten mit authentischem, mitunter glamourösem Ambiente, pittoresker Natur oder geschichtsträchtiger Architektur. Der Rahmen sorgt für gehobene Stimmung, aufschlussreiche Eindrücke oder steigert einfach nur den musikalischen Genuss. Bei einem Komponisten wie Dmitri Schostakowitsch stellt sich die Frage nach Kulinarik nicht, seine Werke eignen sich kaum für heitere Zerstreuung.
Und doch gibt es auch für seine Musik einen authentischen, fast idyllischen Ort mit einer besonderen Geschichte, an dem nun zum 14. Mal die Internationalen Schostakowitsch Tage stattfinden. Vom 22. bis 25. Juni erinnert das Festival daran, dass Schostakowitsch zweimal in seinem Leben für eine Weile in Gohrisch weilte, dem ältesten Luftkurort der Sächsischen Schweiz, vierzig Kilometer östlich von Dresden gelegen. 1960 hielt sich Schostakowitsch im dortigen Gästehaus des Ministerrates der DDR auf und komponierte eines seiner kammermusikalischen Hauptwerke, das wie kein Zweites sein existentielles Leiden unter dem Sowjetregime zum Ausdruck bringt: das Streichquartett Nr. 8 c-Moll op. 110. Es ist das einzige Stück, das Schostakowitsch außerhalb der Sowjetunion komponierte.
Anlass für diesen ersten Besuch dort war ein Aufenthalt in Dresden, wo er gemeinsam mit dem Regisseur Lew Arnstam an dem Film „Fünf Tage – fünf Nächte“ arbeiten sollte. Schostakowitsch war für die Filmmusik des Propagandafilms vorgesehen, der eine ostdeutsch-sowjetische Koproduktion war und von der Evakuierung der Dresdner Kunstschätze durch die Rote Armee nach Moskau im Jahr 1945 erzählte. Vom 9. bis zum 15. Juli zog er sich eigentlich zur Komposition der Filmmusik in den Kurort Gohrisch zurück. Tatsächlich aber komponierte er hier zwischen dem 12. und 14. Juli 1960 in einem wahren Schaffensrausch sein achtes Streichquartett.
Laut Zeitzeugen schrieb Schostakowitsch das Werk damals unter der Buche am kleinen nierenförmigen Teich im Innenhof des Gebäudekomplexes. Im Mai und Juni 1972 verbrachte er mit seiner Frau Irina erneut einige Wochen im Gohrischer Gästehaus, denn Haus und Landschaft hatten offensichtlich einen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen. Bereits nach seinem ersten Besuch schrieb er an seinen Freund Isaak Glikman: „Ich bin von meiner Reise nach Dresden zurückgekehrt. (...) Man hatte es mir dort sehr gut eingerichtet, zwecks Schaffung einer schöpferischen Arbeitsatmosphäre. Gewohnt habe ich in Gohrisch, auch Kurort Gohrisch, nahe dem Städtchen Königstein, 40 Kilometer von Dresden entfernt. Die Gegend ist unerhört schön. Übrigens gehört sich das für sie auch so: Die Gegend nennt sich ,Sächsische Schweiz'. Die schöpferischen Arbeitsbedingungen haben sich gelohnt: Ich habe dort mein achtes Streichquartett komponiert.“
Um diesen besonderen Ort und Schostakowitschs Aufenthalt in Gohrisch zu würdigen, gründete sich 2009 ein Verein und richtete mit den ersten Internationalen Schostakowitsch Tagen Gohrisch im September 2010 – genau 50 Jahre nach Schostakowitschs erstem Besuch in dem Luftkurort – erstmals ein dreitägiges Festival aus. Seither findet das Festival alljährlich statt und ist damit das einzige regelmäßige Schostakowitsch-Festival überhaupt.
Seit 2017 wird das Musikfest mit einem Sonderkonzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden in der Semperoper eröffnet, und an den drei Folgetagen gibt es feine und prominent besetzte Kammerkonzerte in der Gohrischer Konzertscheune mit speziell für das Festival zugeschnittenen Programmen; dabei verzichten die Musiker auf ein Honorar. Ergänzt wird das Programm durch Filme, Diskussionen mit Künstlern und Zeitzeugen sowie Vorträgen und Führungen. Und mit dem „Internationalen Schostakowitsch Preises Gohrisch“ werden jedes Jahr Persönlichkeiten gewürdigt, die sich in besonderer Weise um das Schaffen des russischen Komponisten verdient gemacht haben.
Die 14. Ausgabe des Festivals präsentiert Werke von Schostakowitsch, Alfred Schnittke und dem polnischen Komponisten Krzysztof Meyer, der den diesjährigen Preis des Festivals erhält. Meyer war mit Schostakowitsch persönlich befreundet, feiert im August seinen 80. Geburtstag und ist Schostakowitsch-Biograf.
Am Vorabend des Festivals spielte die Sächsische Staatskapelle Dresden ein Sonderkonzert im Dresdner Kulturpalast. Unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada gab es Schostakowitschs Fünfte sowie das Konzert für Trompete und Orchester von Mieczysław Weinberg mit Håkan Hardenberger als Solisten. Das Abschlusskonzert wird vom Mryia-Quartett aus der Ukraine mit der Pianistin Kateryna Titova bestritten, die in Gohrisch debütierten. Auf dem Programm stehen Werke ukrainischer Komponisten sowie das Klavierquintett von Robert Schumann.
Regine Müller

Fotos: Oliver Killig, Deutsche Fotothek


17. — 23. Juni 2023

Fausto

„Eine der fähigsten Frauen unserer Zeit“
Die Dirigentinnen als „new hot thing“ sind ein wenig durch in der Klassik, die Geigen-Girlies ein ganz alter PR-Hut. Jetzt reden freilich alle von Komponistinnen, suchen und schnüffeln sich durch die Archive. Natürlich gab es die auch – im 19. Jahrhundert freilich vornehmlich als Produzentinnen von Liedern und Klavierwerken für den Salon. Doch die Verfertigerinnen von Sinfonien – etwa Jeanne-Louise Farrenc (1804-75), die es auf drei Großwerke brachte oder die in Deutschland als „weiblicher Beethoven“ gefeierte Emilie Luise Friederika Mayer (1812-83) mit acht Sinfonien – waren die absoluten Ausnahmen. Selbst eine in höchstem künstlerischem Umfeld aufgewachsene Clara Schumann oder Mendelssohns tragisch früh gestorbene Schwester Fanny Hensel, durften in solchen „Männerwerken“ nicht reüssieren. Man kann sich denken, wie unerhört es war, dass es einer – noch dazu von Geburt an querschnittsgelähmten – komponierenden Frau bereits in den 1830er Jahren gelang, gleich drei Opern an den führenden Häusern von Paris zu platzieren; eine vierte blieb unaufgeführt. Doch Louise Bertin (1805-77) war die Tochter des einflussreichen Herausgebers des „Journal des débats“. Da ging natürlich einiges ein wenig leichter, aber eben nur bis zu einem gewissen Punkt …
Zunächst widmete sich Louise als brave höhere Tochter der Schriftstellerei und Malerei, sie sang zudem, entschied sich aber schließlich für eine musikalische Laufbahn; die Familie unterstützte solches. So erhielt sie Unterricht von François-Joseph Fétis und Anton Reicha, bildete sich aber überwiegend autodidaktisch fort.
Ihre „unkonventionelle Harmonik und Melodik führten dazu, dass ihre Musik als originell und sogar als ungewöhnlich beurteilt wurde“, hieß es. So komponierte sie schon 1831, lange vor Berlioz’ „Damnation“, eine vieraktige Semi-Seria-Oper nach Goethes „Faust“, für die sie das Libretto selbst verfasste. Ihre Oper „La Esmeralda“ entstand in Zusammenarbeit mit Victor Hugo, der nach seinem Roman „Notre Dame de Paris“ das Libretto schrieb. Hector Berlioz übernahm die Proben und überarbeitete auch einige Passagen.
Deren Premiere im Jahr 1836 wurde freilich schließlich doch das Opfer einer Intrige, die sich nicht so sehr gegen Louise, sondern vor allem gegen ihren Vater und ihren Bruder Armand richtete. Ihre öffentliche Karriere wurde so beendet, sie aber komponierte weiter und gab ihre Werke auch in den Druck. Berlioz, der über sie sagte, sie sei „eine der intelligentesten und fähigsten Frauen unserer Zeit“, widmete Louise Bertin seinen Liedzyklus „Les nuits d’été“. Franz Liszt transkribierte „La Esmeralda“ für Klavier solo. Louise Bertin schrieb zudem mehrere Instrumentalwerke und sechs Klavierballaden, außerdem zwölf Kantaten, ein Klaviertrio und Kammersinfonien. Auch zwei Gedichtsammlungen veröffentlichte sie.
„La Esmeralda“ gibt es inzwischen als CD-Konzertmitschnitt unter Lawrence Foster vom Festival de Radio France et Montpellier Languedoc Roussillon 2008 bei Accord. Und nun folgt, für eine spätere Veröffentlichung beim eigenen Label, als Höhepunkt des diesjährigen Festivals der Stiftung Palazetto Bru Zane am 20. Juni im Théâtre des Champs-Élysées Bertins „Fausto“, der aufgrund des Ortes der Uraufführung, dem Pariser Théâtre-Italien, eine Oper in italienischer Sprache und Form wurde, jedoch beeinflusst durch den französischen Stil der jungen Komponistin. Rossini und Meyerbeer bescheinigten dem Werk Originalität in Klangfarbe und Melodie sowie bemerkenswerte dramatische Kraft.
Obwohl „Fausto“ mit einem Tenor (Domenico Donzelli) in der Titelrolle uraufgeführt wurde, hat sich das der Palazzetto Bru Zane für die Uraufführung der Originalfassung dieser Oper entschieden, aus deren Manuskript hervorgeht, dass Faust von einer Frau gesungen werden sollte: eine Premiere, die dem Talent von Karine Deshayes gerecht wird. Außerdem sind Karina Gauvin als Margarita, Ante Jerkunica als Mefistofele und Nico Darmanin als Valentino besetzt.
Knapp 200 Jahre nach der ersten Vorstellung wird „Fausto“ am 27. Januar 2027 zudem seine szenische Wiederentdeckung erleben: Andreas Spering dirigiert, und Tatjana Gürbaca nimmt sich diesem Opernschatz an, um die jahrhundertealte Faust-Legende auf ihre heutige Gültigkeit zu überprüfen.
Manuel Brug
Premiere: 17. Juni
Fotos: Eric Larrayadieu (Aufm.), Aymeric Giraudel, Eric Larrayadieu, Michael Slobodian, Victor Tonelli


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