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N° 1356
04. - 12.05.2024

nächste Aktualisierung
am 11.05.2024



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24. — 30. Juni 2023

Schostakowitsch-Tage Gohrisch

„Unerhört schöne Gegend“
Viele sommerliche Festivals punkten mit authentischem, mitunter glamourösem Ambiente, pittoresker Natur oder geschichtsträchtiger Architektur. Der Rahmen sorgt für gehobene Stimmung, aufschlussreiche Eindrücke oder steigert einfach nur den musikalischen Genuss. Bei einem Komponisten wie Dmitri Schostakowitsch stellt sich die Frage nach Kulinarik nicht, seine Werke eignen sich kaum für heitere Zerstreuung.
Und doch gibt es auch für seine Musik einen authentischen, fast idyllischen Ort mit einer besonderen Geschichte, an dem nun zum 14. Mal die Internationalen Schostakowitsch Tage stattfinden. Vom 22. bis 25. Juni erinnert das Festival daran, dass Schostakowitsch zweimal in seinem Leben für eine Weile in Gohrisch weilte, dem ältesten Luftkurort der Sächsischen Schweiz, vierzig Kilometer östlich von Dresden gelegen. 1960 hielt sich Schostakowitsch im dortigen Gästehaus des Ministerrates der DDR auf und komponierte eines seiner kammermusikalischen Hauptwerke, das wie kein Zweites sein existentielles Leiden unter dem Sowjetregime zum Ausdruck bringt: das Streichquartett Nr. 8 c-Moll op. 110. Es ist das einzige Stück, das Schostakowitsch außerhalb der Sowjetunion komponierte.
Anlass für diesen ersten Besuch dort war ein Aufenthalt in Dresden, wo er gemeinsam mit dem Regisseur Lew Arnstam an dem Film „Fünf Tage – fünf Nächte“ arbeiten sollte. Schostakowitsch war für die Filmmusik des Propagandafilms vorgesehen, der eine ostdeutsch-sowjetische Koproduktion war und von der Evakuierung der Dresdner Kunstschätze durch die Rote Armee nach Moskau im Jahr 1945 erzählte. Vom 9. bis zum 15. Juli zog er sich eigentlich zur Komposition der Filmmusik in den Kurort Gohrisch zurück. Tatsächlich aber komponierte er hier zwischen dem 12. und 14. Juli 1960 in einem wahren Schaffensrausch sein achtes Streichquartett.
Laut Zeitzeugen schrieb Schostakowitsch das Werk damals unter der Buche am kleinen nierenförmigen Teich im Innenhof des Gebäudekomplexes. Im Mai und Juni 1972 verbrachte er mit seiner Frau Irina erneut einige Wochen im Gohrischer Gästehaus, denn Haus und Landschaft hatten offensichtlich einen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen. Bereits nach seinem ersten Besuch schrieb er an seinen Freund Isaak Glikman: „Ich bin von meiner Reise nach Dresden zurückgekehrt. (...) Man hatte es mir dort sehr gut eingerichtet, zwecks Schaffung einer schöpferischen Arbeitsatmosphäre. Gewohnt habe ich in Gohrisch, auch Kurort Gohrisch, nahe dem Städtchen Königstein, 40 Kilometer von Dresden entfernt. Die Gegend ist unerhört schön. Übrigens gehört sich das für sie auch so: Die Gegend nennt sich ,Sächsische Schweiz'. Die schöpferischen Arbeitsbedingungen haben sich gelohnt: Ich habe dort mein achtes Streichquartett komponiert.“
Um diesen besonderen Ort und Schostakowitschs Aufenthalt in Gohrisch zu würdigen, gründete sich 2009 ein Verein und richtete mit den ersten Internationalen Schostakowitsch Tagen Gohrisch im September 2010 – genau 50 Jahre nach Schostakowitschs erstem Besuch in dem Luftkurort – erstmals ein dreitägiges Festival aus. Seither findet das Festival alljährlich statt und ist damit das einzige regelmäßige Schostakowitsch-Festival überhaupt.
Seit 2017 wird das Musikfest mit einem Sonderkonzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden in der Semperoper eröffnet, und an den drei Folgetagen gibt es feine und prominent besetzte Kammerkonzerte in der Gohrischer Konzertscheune mit speziell für das Festival zugeschnittenen Programmen; dabei verzichten die Musiker auf ein Honorar. Ergänzt wird das Programm durch Filme, Diskussionen mit Künstlern und Zeitzeugen sowie Vorträgen und Führungen. Und mit dem „Internationalen Schostakowitsch Preises Gohrisch“ werden jedes Jahr Persönlichkeiten gewürdigt, die sich in besonderer Weise um das Schaffen des russischen Komponisten verdient gemacht haben.
Die 14. Ausgabe des Festivals präsentiert Werke von Schostakowitsch, Alfred Schnittke und dem polnischen Komponisten Krzysztof Meyer, der den diesjährigen Preis des Festivals erhält. Meyer war mit Schostakowitsch persönlich befreundet, feiert im August seinen 80. Geburtstag und ist Schostakowitsch-Biograf.
Am Vorabend des Festivals spielte die Sächsische Staatskapelle Dresden ein Sonderkonzert im Dresdner Kulturpalast. Unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada gab es Schostakowitschs Fünfte sowie das Konzert für Trompete und Orchester von Mieczysław Weinberg mit Håkan Hardenberger als Solisten. Das Abschlusskonzert wird vom Mryia-Quartett aus der Ukraine mit der Pianistin Kateryna Titova bestritten, die in Gohrisch debütierten. Auf dem Programm stehen Werke ukrainischer Komponisten sowie das Klavierquintett von Robert Schumann.
Regine Müller

Fotos: Oliver Killig, Deutsche Fotothek


17. — 23. Juni 2023

Fausto

„Eine der fähigsten Frauen unserer Zeit“
Die Dirigentinnen als „new hot thing“ sind ein wenig durch in der Klassik, die Geigen-Girlies ein ganz alter PR-Hut. Jetzt reden freilich alle von Komponistinnen, suchen und schnüffeln sich durch die Archive. Natürlich gab es die auch – im 19. Jahrhundert freilich vornehmlich als Produzentinnen von Liedern und Klavierwerken für den Salon. Doch die Verfertigerinnen von Sinfonien – etwa Jeanne-Louise Farrenc (1804-75), die es auf drei Großwerke brachte oder die in Deutschland als „weiblicher Beethoven“ gefeierte Emilie Luise Friederika Mayer (1812-83) mit acht Sinfonien – waren die absoluten Ausnahmen. Selbst eine in höchstem künstlerischem Umfeld aufgewachsene Clara Schumann oder Mendelssohns tragisch früh gestorbene Schwester Fanny Hensel, durften in solchen „Männerwerken“ nicht reüssieren. Man kann sich denken, wie unerhört es war, dass es einer – noch dazu von Geburt an querschnittsgelähmten – komponierenden Frau bereits in den 1830er Jahren gelang, gleich drei Opern an den führenden Häusern von Paris zu platzieren; eine vierte blieb unaufgeführt. Doch Louise Bertin (1805-77) war die Tochter des einflussreichen Herausgebers des „Journal des débats“. Da ging natürlich einiges ein wenig leichter, aber eben nur bis zu einem gewissen Punkt …
Zunächst widmete sich Louise als brave höhere Tochter der Schriftstellerei und Malerei, sie sang zudem, entschied sich aber schließlich für eine musikalische Laufbahn; die Familie unterstützte solches. So erhielt sie Unterricht von François-Joseph Fétis und Anton Reicha, bildete sich aber überwiegend autodidaktisch fort.
Ihre „unkonventionelle Harmonik und Melodik führten dazu, dass ihre Musik als originell und sogar als ungewöhnlich beurteilt wurde“, hieß es. So komponierte sie schon 1831, lange vor Berlioz’ „Damnation“, eine vieraktige Semi-Seria-Oper nach Goethes „Faust“, für die sie das Libretto selbst verfasste. Ihre Oper „La Esmeralda“ entstand in Zusammenarbeit mit Victor Hugo, der nach seinem Roman „Notre Dame de Paris“ das Libretto schrieb. Hector Berlioz übernahm die Proben und überarbeitete auch einige Passagen.
Deren Premiere im Jahr 1836 wurde freilich schließlich doch das Opfer einer Intrige, die sich nicht so sehr gegen Louise, sondern vor allem gegen ihren Vater und ihren Bruder Armand richtete. Ihre öffentliche Karriere wurde so beendet, sie aber komponierte weiter und gab ihre Werke auch in den Druck. Berlioz, der über sie sagte, sie sei „eine der intelligentesten und fähigsten Frauen unserer Zeit“, widmete Louise Bertin seinen Liedzyklus „Les nuits d’été“. Franz Liszt transkribierte „La Esmeralda“ für Klavier solo. Louise Bertin schrieb zudem mehrere Instrumentalwerke und sechs Klavierballaden, außerdem zwölf Kantaten, ein Klaviertrio und Kammersinfonien. Auch zwei Gedichtsammlungen veröffentlichte sie.
„La Esmeralda“ gibt es inzwischen als CD-Konzertmitschnitt unter Lawrence Foster vom Festival de Radio France et Montpellier Languedoc Roussillon 2008 bei Accord. Und nun folgt, für eine spätere Veröffentlichung beim eigenen Label, als Höhepunkt des diesjährigen Festivals der Stiftung Palazetto Bru Zane am 20. Juni im Théâtre des Champs-Élysées Bertins „Fausto“, der aufgrund des Ortes der Uraufführung, dem Pariser Théâtre-Italien, eine Oper in italienischer Sprache und Form wurde, jedoch beeinflusst durch den französischen Stil der jungen Komponistin. Rossini und Meyerbeer bescheinigten dem Werk Originalität in Klangfarbe und Melodie sowie bemerkenswerte dramatische Kraft.
Obwohl „Fausto“ mit einem Tenor (Domenico Donzelli) in der Titelrolle uraufgeführt wurde, hat sich das der Palazzetto Bru Zane für die Uraufführung der Originalfassung dieser Oper entschieden, aus deren Manuskript hervorgeht, dass Faust von einer Frau gesungen werden sollte: eine Premiere, die dem Talent von Karine Deshayes gerecht wird. Außerdem sind Karina Gauvin als Margarita, Ante Jerkunica als Mefistofele und Nico Darmanin als Valentino besetzt.
Knapp 200 Jahre nach der ersten Vorstellung wird „Fausto“ am 27. Januar 2027 zudem seine szenische Wiederentdeckung erleben: Andreas Spering dirigiert, und Tatjana Gürbaca nimmt sich diesem Opernschatz an, um die jahrhundertealte Faust-Legende auf ihre heutige Gültigkeit zu überprüfen.
Manuel Brug
Premiere: 17. Juni
Fotos: Eric Larrayadieu (Aufm.), Aymeric Giraudel, Eric Larrayadieu, Michael Slobodian, Victor Tonelli


10. — 16. Juni 2023

Il Teorema di Pasolini

Die Sprengkraft des Eros
In einem Kasten, der an einen alten Fernseher erinnert, sitzt eine Familie am Tisch. Menschen in weißen Overalls beobachten sie von fern wie eine exotische Spezies. Bei der Uraufführung von Giorgio Battistellis Musiktheaterstück „Il Teorema di Pasolini“ wähnt sich auch das Publikum in der Deutschen Oper Berlin in einer Art Labor. Medizinische Daten wie Blutdruckwerte und Sauerstoffsättigung des Bluts erscheinen auf der Bühne wie auf einem riesigen Monitor. Battistelli hat Pier Paolo Pasolinis Abrechnung mit dem spießigen Bürgertum der Sechzigerjahre überzeugend in unsere Jetztzeit hineingeholt. Der Filmregisseur, Dichter und Schriftsteller, der als Schwuler und Kommunist damals in erzkonservativen Kreisen zum Enfant Terrible wurde, ließ in seinem Roman und dem Film „Teorema“ einen geheimnisvollen Gast in das erstarrte Leben einer großbürgerlichen Familie hineinplatzen. Vater Paolo, Mutter Lucia, Sohn Pietro und Tochter Odetta können sich dem Verführer nicht entziehen, ebenso wenig wie das Hausmädchen Emilia. Battistelli verzichtet darauf, die beißende Kritik Pasolinis am Kapitalismus mit all ihren zeittypischen Anspielungen zu reproduzieren. Seine Version der Geschichte lässt neue Deutungen zu. Man kann sich ohne Weiteres vorstellen, wie die mysteriöse Anziehungskraft von etwas Unbekanntem uns auch heute aus gewohnten Bahnen werfen kann. Battistelli begleitet das Bühnengeschehen mit einer höchst beunruhigend wirkenden Musik. Immer wieder kommt es zu eruptiven Steigerungen und grellen Akzenten, vor allem beim Spiel der Bläser. Im ersten Teil der Oper zieht der „Ospite“ mit seiner erotischen Ausstrahlung nach und nach alle Familienmitglieder in seinen Bann. Die Wissenschaftler im Labor übernehmen zunächst die spannungsreichen Gesangsparts, die zwischen Sprechen und Sprechgesang oszillieren. Ihre Probanden agieren dagegen stumm, mit Ausnahme des Gastes, der kein Double braucht. Das britisch-irische Theaterkollektiv Dead Centre, das hier erstmals an einem Opernhaus inszeniert, besetzt die Rollen doppelt - den Sängern wird jeweils ein Schauspieler zugeordnet. Die visuelle Umsetzung ist durch und durch gelungen. Auf Videoaufnahmen erscheinen die aus ihrem verkrusteten Ordnungsgefüge herausgerissenen Familienmitglieder wie unter einem Vergrößerungsglas, teils stark verfremdet wie auf Aufnahmen einer Wärmebildkamera. „Person weint“, ist an einer Stelle als lapidarer Satz zu lesen. Wie in Pasolinis Film bleibt Empathie außen vor, die Personen werden gnadenlos seziert. Im zweiten Teil des knapp zwei Stunden langen Stücks, das ohne Pause aufgeführt wird, ist die Familie wieder allein. Ihr Gast ist verschwunden, zum früheren Leben führt aber kein Weg mehr zurück. Hat der Fremde, den Pasolini als „Engel der Zerstörung“ sah, sie von Zwängen befreit? Die Familienmitglieder, die sich vorher wenig zu sagen hatten, singen plötzlich miteinander. Anders als im ersten Teil haben sie nun selbst eine Stimme. Die Musik wird freier, schlägt größere Bögen. Das Spektrum der stimmlichen Ausdruckmittel erweitert sich von der Rezitation zum Operngesang hin. Dennoch hat die Hingabe an den Verführer (Nikolay Borchev) die Familie endgültig auseinandergetrieben, ihr den Boden unter den Füßen weggerissen. Lucia (Ángeles Blancas Gulin), die dem filmischen Vorbild (unnachahmlich verkörpert von Silvana Mangano) verblüffend ähnelt, stürzt sich in wilde Sexabenteuer mit anderen Männern. Odetta (Meechot Marrero) verliert den Verstand und kommt in die Psychiatrie. Pietro (Andrei Danilov) wird zu einem Maler ohne eigene Inspiration. Anders verhält es sich mit der Hausangestellten Emilia (Monica Bacelli), die von dem Gast vor einem Suizid gerettet wird und sich dann in die Religion flüchtet. In einer der letzten Szenen schwebt sie wie ein Engel in einem düsteren Himmel. Eine solche Zuflucht zu etwas Höherem bleibt Paolo (Davide Damiani) verwehrt. Er lässt alles hinter sich, reißt sich die Kleider vom Leib. Die Oper endet mit seinem gellenden Schrei. Begeisterter Beifall aus dem Publikum, auch für den Dirigenten Daniel Cohen am Pult des Orchesters der Deutschen Oper.
Corina Kolbe
Premiere: 9. Juni
Fotos: Eike Walkenhorst


03. — 09. Juni 2023

Genoveva

„Eine Fundgrube voll wunderschöner Musik“
Die werbenden Worte auf der Webseite der Düsseldorfer Tonhalle für das Eröffnungskonzert des diesjährigen Schumannfests bringen die Situation, oder vielleicht auch das Problem auf den Punkt: „Schumanns einzige Oper! Eine Fundgrube voll wunderschöner Musik. Seine „Genoveva“ ist in vielerlei Hinsicht ein Geniestreich. Hier hat die Musik mehr Bedeutung als die dramatische Handlung.“ Der letzte Satz ist entlarvend, denn er knüpft an das an, was der einst gefürchtete Wiener Kritikerpapst Eduard Hanslick 1877 wie folgt zu Protokoll gab: „Leider krankt die Musik an dem einen unheilbaren Uebel, undramatisch zu sein. Schumann's ganze Natur, auf ein tief innerliches Arbeiten und ein höchst subjectives, bis zur Grübelei verfeinertes Empfinden gestellt, war undramatisch, unfähig, sich an die Charaktere eines Dramas so zu entäußern, dass diese als lebendige, scharf ausgeprägte Personen vor uns stehen und gehen.“
Das Urteil des Undramatischen hält sich bis heute hartnäckig, ähnlich wie bei Schuberts Opernversuchen. Wenige szenische Aufführungen konnten Schumanns Projekt bis heute nicht ins Repertoire heben, es bleibt, wenn überhaupt bei konzertanten, oder wie hier in Düsseldorf, bei halbszenischen Wiederbelebungsversuchen.
Am Sujet kann’s nicht liegen, denn das bietet alles, was eine Oper braucht: Liebe, Eifersucht, Mord, Rache und ein dramatischer Handlungsrahmen. Ein gewisser Golo soll auf die schöne Titelheldin, Gattin seines Herrn, des Pfalzgrafen Siegfried, aufpassen, während dieser sich auf einen Kreuzzug begibt. Golo aber begehrt die schöne, leider arg naive Genoveva, und alsbald fällt sie einer raffiniert eingefädelten Intrige zum Opfer, die sie als treulose Ehebrecherin bezichtigt. Nach turbulenten Wendungen kommt erst letzter Minute die Wahrheit ans Licht und Genoveva ist gerettet.
Kompositorisch war Schumann im Revolutionsjahr 1848, als das Werk entstand, eigentlich auf der Höhe seiner Schaffenskraft, er komponierte ansonsten das „Album für die Jugend“, die „Waldszenen“, die vierhändigen „Bilder aus Osten“, sowie „Manfred“, den dritten Teil der „Szenen aus Goethes Faust“ und eben jene „Genoveva“.
In Düsseldorf erklingt Schumanns sprödes Bühnenwerk nun erstmals auf historischen Instrumenten: Das Helsinki Baroque Orchestra tut sich zusammen mit dem Arnold Schönberg Chor und einem famosen Solistenensemble um Carolyn Sampson und Marie Seidler. Außerdem hat Regisseurin Kristiina Helin das Geschehen dezent inszeniert: Auf der Bühne sitzen sich das Orchester und der Chor gegenüber, die Damen tragen altertümelnde weiße Häubchen und Fantasie-Hüte, die Herren weiße Lätzchen, die an klerikale Bäffchen erinnern. Genoveva trägt ein weißes Hängerchen, ihre Gegenspielerin Margaretha ein schwarzes, das restliche männliche Solistenpersonal schlichtes Schwarz mit signalhaft weiß leuchtenden Handschuhen. Das karge szenische Geschehen spielt sich auf einer schmalen Fläche vor Chor und Orchester ab, auf einer großen Projektionsfläche lässt das Animationsteam IC-98 kunstvoll ersonnene Videos ablaufen, die allenfalls assoziativ mit der Handlung in einen Zusammenhang zu bringen sind: Eine langgestreckte klassizistische Schlossfront mit Säulen, an der Jahreszeiten und offenbar Jahrhunderte fast unmerklich vorbeiziehen, die verwittert, einschneit und zuwächst. Dann ein sich drehender Kreis mal aus Grünzeug, dann aus Dornen, eine öde Anhöhe mit schiefen Fahnenmasten, schließlich ein wild bewegtes Meer, als wäre man beim „Fliegenden Holländer“.
Das Helsinki Baroque Orchestra spielt unter der federnden Leitung von Aapo Häkkinen wunderbar transparent, flexibel in den Tempi und inspiriert, insbesondere die Orchesterzwischenspiele lassen aufhorchen und haben ihre kostbaren Momente. Der Wiener Arnold Schönberg Chor liefert die gewohnte, herausragende Qualität, klar, tonschön, stilsicher. Carolyn Sampson singt die Titelpartie mit kristallinem Sopran und arbeitet sich tapfer durch die frömmelnd-naiven Passagen der Partie, Marcel Beekman gibt dem Bösewicht Golo sehr helle Tenorfarben, Johannes Weisser ist ein etwas zu brachialer Siegfried, Marie Seidler hat als intrigante Amme die interessanteste Partie, was sie mit flammendem Mezzo weidlich nutzt, die kleineren Rollen sind famos besetzt.
Aber ach, es hilft nichts: Allein vor dem bieder-peinlichen Libretto möchte man die Augen verdrehen, die Figuren bleiben Schablonen, singende Poesiealbum-Sprüche. Dennoch: großer Jubel am Ende in der leider schlecht verkauften Tonhalle.
Regine Müller
Fotos: Maarit Kytöharju


27. Mai — 02. Juni 2023

Venere e Adone

Ein präziser atmosphärischer Zauber
„Schiffsbruch eines Mythos“ – „Naufragio di un mito“ so hieß sicher in der ganzen Operngeschichte noch kein Musiktheaterwerk. Für Salvatore Sciarrino – neben Giorgio Battistelli – gegenwärtig Italiens bedeutendster lebender Komponist – ist das freilich nur einer von diversen, komplexen Untertiteln für seine Bühnenstücke. Deren jüngstes, nun an der Hamburgischen Staatsoper am 28. Mai zur Uraufführung anstehende Opus, „Venus und Adonis“ geheißen, Chefsache zudem, bei der in seltener künstlerischen Einigkeit der Generalmusikdirektor Kent Nagano am Pult steht und der inszenierende Intendant George Delnon am Regiepult sitzt, versteht die Genrebezeichnung hoffentlich nicht als böses Omen …
„Venere e Adone“ ist summa summarum Sciarrinos 18. Musiktheaterwerk. Die lassen sich freilich schwer aufschlüsseln, zwischen Gesangsszenen, dramatischen Konstrukten, Tanzstücken, Opern. Und sicher kann man sagen, dass die beiden letzten „Opern“, „Superflumina“ für Mannheim und „Ti vedo, ti sento, mi perdo“ für das Teatro alla Scala di Milano bzw. die Berliner Staatsoper, inzwischen zwölf und acht Jahre her sind. Und auch für das jüngste Bühnen-Baby Sciarrinos gilt: Es beginnt wie sie oft mit Klängen aus der Stille. Sie kommen näher, bewegen sich und lösen sich in Dunkelheit auf. Ihre Natur ist das Sein und Nicht-Sein, das Entstehen und Vergehen – gleich aller Lebewesen in der ewigen Illusion von Leben und Tod. Es sind Klänge, wie sie die Menschen umgeben, eine naturnahe Musik.
Sie erzählen freilich von mythischen Gestalten: Venus und Mars, die einst Amor zeugten. Amor, der nun den betrogenen Vater rächen soll. Dem schönen Adonis, dem seine Liebe zu Venus zum Verhängnis wird. Und über allem: das Ungeheuer, il mostro, das keine Zuneigung kennt, keine Liebe, keinen Hass, sich selbst am allerwenigsten. Es wartet, unbekannt und todbringend, malträtiert von den Stimmen der Welt. Eine uralte Geschichte windet sich durch das Dickicht mythologischer Verflechtungen und findet neue Pfade. Wer wird triumphieren, Liebe oder Tod?
Sciarrino ist der erste nicht, der den Mythos in Töne umgesetzt hat. Schon Purcells Kompositionslehrer John Blow schrieb 1683 mit „Venus and Adonis“ die vermutlich erste englische Oper. Als „Der geliebte Adonis“, vertont von Reinhard Keiser, zierte der Stoff 1697 die berühmte Bürgeroper am Hamburger Gänsemarkt. 1997 brachte Hans Werner Henze die Geschichte an der Bayerischen Staatsoper auf die Bühne. Dramaturgisch betreut wird diese jüngste Musiktheater-Variation in Hamburg, wie so oft bei Sciarrino, von Klaus-Peter Kehr. Venere singt Layla Claire, Adone Randall Scotting. Matthias Klink gibt den Mars, Cody Quattlebaum Vulcano, Kady Evanyshyn Amore. Und das Il Mostro ist Evan Hughes, während La Fama gleichzeitig von dem Sopran Vera Talerko und dem Bariton Nicholas Mogg übernommen werden. Außerdem ist das kleine Vokalensemble Venere e Adone neben dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg zu hören.
Wer aber ist dieser Salvatore Sciarrino, die mit seiner Kammermusik wie seinen schillernd vielgestaltige, trotzdem klanglich schnell wiedererkennbaren Musiktheaterwerken zu den meistaufgeführten Komponisten der Gegenwart zählt? Er wurde am 4. April 1947 in Palermo geboren, sieht sich als stolzer Autodidakt, der nie ein Konservatorium besuchte, bei Antonino Titone als Zwölfjähriger zu komponieren begann, später bei Turi Belfiore lernte. 1962 wurde zum ersten Mal ein Werk von ihm öffentlich aufgeführt. Sciarrino war drei Jahre lang künstlerischer Leiter des Teatro Comunale in Bologna tätig, ansonsten führt er eine freie Existenz zu Hause im umbrischen Città di Castello.
In seinen Werken beschäftigt er sich viel mit Obertönen, dem Klang und der „Farbe“ der Töne und der Stille. Bekannt wurde Sciarrino jedoch besonders mit seinen antinaturalistisch und mystisch wirkenden Musiktheaterwerken. Die meisten entstanden in den Achtzigerjahren für sein „Theater der Körper“, das an die Performance-Erfahrungen der Sechziger anknüpfte. Am erfolgreichsten wurde seine Oper „Luci mie traditrici“, die 1998 (wie einige weitere) bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführt wurde. Darin greift er das tragische Leben des gewalttätigen Renaissance-Komponisten Carlo Gesualdo auf. Und mit Stücken wie „Amore e Psiche“ 193 für Mailand, „Perseo e Andromeda“ 1991 für Stuttgart, hat er sich bereits mit Mythologien auseinandergesetzt.
Ein präziser atmosphärischer Zauber geht von Salvatore Sciarrinos oft ausgedünnten, kostbar konzentrierten Partituren aus, die doch ihre großen italienischen Opernvorbilder zu kennen scheinen, vor dieser Tradition aber nicht einknicken, sie ins Heute übersetzen. Da rasselt es hier metallisch, glissandiert da ein Kontrabass, gurgelt eine gestopfte Trompete und geht auch mal Glas zu Bruch. Es vibriert in isolierten Linien, fernen Flötenmelodien, am Rande des Hörbaren sich entfaltenden Streicherkantilenen. Zersplittert, doch intensiv ist das, sich soghaft verdichtend. Oft erzählt diese Musik mit geradezu schmerzhafter Schärfe und Melancholie, ebenso radikal wie poetisch von der Liebe wie der Isolation des Menschen.
Melismenreich und mit vielen Punktierungen, oft auf nur einem Ton mäandern die Gesangspartien in variierten Wiederholungen dahin. Und doch entsteht eine facettenreiche Innenspannung, gepaart mit einer sehnsuchtsvoll südländischen, ja belcantistischen Tonanmutung. Auch die Orchesterbehandlung ist oft von extremen Einzelstimmen geprägt, die sich kurzzeitig zu scharfen Tutti-Ballungen ausweiten. So entstehen Klangwirkungen, die sich nie in den Vordergrund drängen und doch allem den unverwechselbaren Sciarrino-Stempel aufdrücken. Dessen bisweilen hauchfeinen Gespinste, voll unterschwelliger Sinnlichkeit und unaufdringlich intellektueller Dichte, sind nämlich immer klar strukturierte Hörabenteuer.
Manuel Brug
Premiere: 28. Mai. Weitere Termine (Ausw.): 31.05., 03.06., 06.06., 08.06.

Fotos: Brinkhoff/Mögenburg


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