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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

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am 04.05.2024



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3D-Rendering von Johannes Brahms (c) Hadi Karimi

Heidelberger Frühling

Das Gefühl eines sicheren Hafens

Das Musikfestival macht 2024 die Kammermusik von Johannes Brahms zum General-Thema des gesamten Festivaljahres.

Im 19. Jahrhundert flogen in der Musikkritik noch so richtig die Fetzen. Erbarmungslos wurde die zeitgenössische Musik zerlegt, die Kritik richtete über ästhetische Haltung und persönlichen Charakter des Komponisten gleich mit. Besonders hart traf es Johannes Brahms: Die Kritik ernannte ihn zum Antipoden der Erneuerer Wagner und Liszt und verspottete ihn als Epigonen. Von allen Vorwürfen, die man einem Künstler damals machen konnte, war dies der schwerste. „Er hat die Melancholie des Unvermögens – (...) er ist ein Meister der Copie“ giftete Friedrich Nietzsche. Erst 1933 erkannte ausgerechnet Arnold Schönberg in Brahms den „Fortschrittlichen“. Dennoch kämpfte die Brahms-Rezeption lange noch mit dem Vorurteil des gravitätischen Melancholikers, des kühlen Klassizisten der formalen Meisterschaft.
Von diesen Klischees völlig unbehelligt macht sich der sich immer weiter ausdehnende Heidelberger Frühling in diesem Jahr daran, das Kammermusik-Schaffen von Brahms zu erkunden und womöglich auch neu zu beleuchten. Einen ersten Erfolg konnte bereits das deutlich im Vorfrühling, nämlich im klammen Januar terminierte Streichquartettfest mit „Brahms im Zentrum“ verzeichnen, das in vier Festivaltagen mit zehn Veranstaltungen rund 3700 Plätze verkaufte und damit eine Auslastung von 95 Prozent erreichte. Erstaunlich für die als sperrig geltende Gattung Streichquartett.
Der Heidelberger Zugang zu Brahms will ein von der Rezeptionsgeschichte ganz unverstellter, vor allem emotionaler sein. Dabei geht das erfolgsverwöhnte Festival ein Risiko ein, denn erstmals widmet sich der ganze Jahrgang einem einzigen Komponisten. Intendant Thorsten Schmidt sieht in der Konzentration einen Kernauftrag seines Festivals: „Das ist es, was ein Festival tun sollte. Einen Erfahrungsraum bereitstellen, der diese Musik in herausragender Qualität präsentiert.“

Tomatensalat, zum Trost

Die Idee, Brahms ins Zentrum zu stellen, kam Schmidt spontan in der eigenen Küche, als er mit Igor Levit, der den etwas umständlichen Titel „Co-Künstlerischer Leiter des Heidelberger Frühling Musikfestivals“ trägt, einen Salat zubereitete. Beim gemeinsamen Tomaten-Schnibbeln soll der Pianist vor sich hingebrummelt haben: „Ich würde eigentlich gerne einmal das gesamte kammermusikalische Werk mit Klavier von Johannes Brahms mit interessanten jungen Musikerinnen und Musikern spielen.“
Die Idee setzte sich fest in Schmidts Hinterkopf und gerade die Konzentration auf einen Komponisten faszinierte den langjährigen Intendanten: „Wir öffnen einen sozialen Ort auf Zeit für Publikum und Künstlerinnen und Künstler und schaffen durch die Konzentration auf einen Komponisten Distanz zum Alltag und in rauen Zeiten einen Ort der Sicherheit. Das ist die Grundidee, die schon Richard Wagner für den Idealtypus eines Festspiels hatte.“
Igor Levit verbindet mit Brahms besonders beglückende Konzerterfahrungen: „Ich habe es kürzlich auf der Bühne im Konzert sehr deutlich gespürt: Es hat ein starkes Trost­element, diese Stücke zu spielen. Diese Musik hat etwas so Haltendes und Umarmendes! Keine Beethoven-Sonate gibt mir das, die gibt mir etwas Anderes. Ich wünsche mir bei jedem Stück: ‚Bitte hör nie auf!‘ Es vermittelt mir das Gefühl eines sicheren Hafens, das zu spielen.“
Das Programm geizt nicht mit Höhepunkten und Raritäten: Unter Aussparung der großen sinfonischen Werke läuft das Kernfestival vom 15. März bis 13. April und bietet – nach einer erstmalig installierten „Ouvertüre“ vom 16. bis 18. Februar – mit 87 Veranstaltungen neben klassischen Konzertformaten sechs Ausgaben des „Brahms.LAB“, dessen kuratorische Verantwortung beim 2023 erstmals formierten Festivalcampus-Ensemble liegt, das sich aus jungen Solistinnen und Solisten rekrutiert. Igor Levit spielt selbst mit den „Fellows“ zentrale Kammermusikwerke Brahms’, im Rahmenprogramm gibt es in der Brahms-Lounge Einführungen und Diskussionsveranstaltungen.

Das Woher und Wohin des Hamburgers

Das Eröffnungskonzert bestreitet unter dem Titel „Brahms: auf Mozarts Spuren“ die Camerata RCO – bestehend aus Mitgliedern des Royal Concertgebouw Orchestra mit Brahms’ Serenade in der rekonstruierten Urfassung für Kammerensemble. Christian Gerhaher und Gerold Huber präsentieren am Folgetag „Brahms: ,Meine Lieder‘“ und weisen damit bereits voraus zum Liedfestival im Juni. Delikates verspricht ein Konzert mit dem Trio Wanderer, das Brahms’ Klaviertrio Nr. 1 in der Ursprungsfassung ans Ende des Programms stellt, nachdem Schumanns erstes Klaviertrio und zwei Sätze von Lili Boulanger erklungen sind. Geigen-Wildfang Patricia Kopatchinskaja kommt mit der Camerata Bern und widmet sich unter dem Titel „Exile“ unter anderem ukrainisch-russischer und moldawischer Folklore, der Titularorganist der Kathedrale Notre Dame de Paris, Olivier Latry, macht mit dem wenig bekannten Orgelwerk Brahms’ bekannt und Igor Levit bricht mit „Kleine Formen, große Tiefe“ eine Lanze für Intermezzi und Fantasien aus Brahms’ Feder.
Besondere, tiefe Versenkung ist von der Brahms-Nacht zu erwarten, in der Schwergewichte wie das Klavierquartett Nr. 3 und das Klavierquintett „sowie andere Werke“ versprochen sind, Igor Levit moderiert die Session, an der unter anderem auch Star-Klarinettistin Sharon Kam teilnimmt.
Im Sommer schließt sich dann vom 8. bis 16. Juni das Liedfestival an, dessen Programm noch nicht veröffentlicht ist. Das Festival lebt von Gastspielen handverlesener Lied-Spezialisten, aber auch zahlreichen Eigenproduktionen des eigenen Liedzentrums, sowie den Lied.LABs. Außerdem läuft die abschließende Arbeitsphase der ganzjährigen Liedakademie von Thomas Hampson mit öffentlichen Meisterklassen vor Publikum und Konzerten des aktuellen Jahrgangs an Stipendiatinnen und Stipendiaten. Von der Gästeliste seien vorab verraten: Katharina Konradi und Catriona Morison mit selten zu hörenden Brahms-Duetten, die österreichische Formation The Erlkings und Shooting-Star Konstantin Krimmel.

Informationen und Tickets unter:

www.heidelberger-fruehling.de

Regine Müller, 10.02.2024, RONDO Ausgabe 1 / 2024



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